Ich habe das Talent, in viele sehr coole und sehr merkwürdige Menschen reinzulaufen (und das ist großartig). In „Unter Menschen“ habe ich angefangen, einige von diesen Begegnungen aufzuschreiben. Viel Spaß!
Alfons war die Stimme einer Generation. Von welcher wusste er auch nicht so genau, aber das wird schon seine Richtigkeit haben.
Seine Freunde nannten ihn Alf, was bisher zwar noch keine rechtlichen Konsequenzen mit sich trug, doch konnte er nicht von sich weisen, dass ihm das Ganze dennoch irgendwie Grund zur Sorge gab. Alfi war ihm somit sein Ausweichname, falls es mal brenzlig werden sollte. Hoffentlich würde es nie so weit kommen.
Texte hatte er nicht, brauchte er nicht – Alfons Gesang transzendierte den Gebrauch von Worten, sofern es ihn betraf; es handelte sich um nicht weniger als bloße, aufrichtige Emotion und keine Worte dieser Welt würden je fähig sein, dieses Gefühl zu tragen. Da war er sich sicher und nicht umsonst sind schon die größten aller Poeten daran verzweifelt, auch nur ein Gefühl halbwegs angemessen auszudrücken.
Alfons wollte gar keine Worte. Menschen redeten ohnehin viel zu viel, vor allem wenn der Tag lang war und nur die wenigsten Tage waren kurz für Alfons. Er hatte etwas Besseres: Ululationen, Melismen, Koloraturen. Kluge Worte für U-u-U-u-U-u-UUUU, oder auch A-a-A-a-A-a-AAAA – und würde Alfons das hier lesen, würde es ihn seiner Meinung sicherlich bestätigen, denn der erbärmliche Versuch seinen Gesang zu verschriftlichen, ist in etwa so vielversprechend wie das Fotografieren einer nicht existierenden Farbe.
Einen jeden Samstagabend verschlug es Alfons in die Schanze, selten mal auch freitags. Manchmal auch auf den Kiez, aber der war zu laut, zu voll, da würde ihn niemand hören.
Hamburg war eine so fürchterlich große Stadt und umso wichtiger ist es zu wissen, in welchem Viertel man daheim ist und in welchem nur zu Gast. Der Kiez hatte viele Stammgäste, doch nur wenige Leute, welche die Partymeile als Zuhause schimpfen durften (wobei manch einer so regelmäßig in den dortigen Kneipen, dem Sex-Kino oder anderswo versauerte, sie hätte ebenso gut ihr Zuhause sein können). Die Schanze war da etwas ausbalancierter, zumal es die meisten ihrer Gäste unweigerlich zum Kiez zog, wenn erstmal genug Alkohol geflossen ist oder andere Substanzen – Gras, Koks, Teile, was auch immer – diese Entscheidung letzten Endes abnahmen.
Nicht für Alfons. Kein Abend wurde jemals besser, nachdem irgendwer im Suff meinte Lasst mal kiezen, seiner Meinung nach. Clubs waren laut, in Clubs konnte man nur mitsingen – und wirklich niemand hörte im Club die Stimme einer Generation. So blieb er bevorzugt in der Schanze. Hier war er daheim, hier könnte er singen. Auch diesen Abend würde er hierbleiben. Die Nachtluft war einfach zu schön, selbst in der Schanze, welche doch eigentlich nur nach Zigarettenrauch von Selbstgedrehten, billigem Bier, bepissten Wänden und fettigem Essen roch.
Alfons gefiel das. Zuhause halt. Kein Club würde ihm das verpesten.
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Vorglühen also. Auch wenn Alfons der Sprache im Allgemeinen nicht allzu zugetan war, musste er ihr lassen, das war ein gutes Wort. Es war konzise, treffend, prägnant – womöglich hätte nicht einmal sein Gesang diese Sensation so gut beschreiben können. Vorglühen bezeichnet schließlich nicht nur den Beginn eines durch Alkohol begleiteten Abends, das sinnbildliche Entfachen des Feuers einer wilden, unkontrollierten Nacht – denn was ist Feuer, wenn nicht das? –, sondern auch die gediegene Wärme, welche mit jedem Schluck Bier, Wein, Pfeffi, was auch immer, in einem aufsteigt und zum letztendlichen Ausbrennen in den hiesigen Nächten führte, wie ein kleines Blatt, welches länger kokelte als gewollt. Dann wiederum war es nicht perfekt, ganz im Gegensatz zu Alfons Gesang, denn dieser war eindeutig. Nicht mehr und nicht weniger. Vorglühen hingegen bezeichnet genauso das Glimmen der Glühkerzen vorm Anlassen eines Dieselmotors in der Kfz-Technik. Zweideutig, nicht zu verwechseln mit doppeldeutig. Zweideutig war schlecht und Sprache war Alfons viel zu verwirrend. Ihm brummte beim Grübeln jetzt schon der Schädel und er hing gerade mal bei der ersten Hälfte seines ersten Astras. Sein Trupp und er kauften eine Runde beim ersten Kiosk, welchem sie über den Weg liefen und tippelten jetzt orientierungslos durch das Szeneviertel, durch Alfons Zuhause, unwissend, wie es jetzt weitegehen sollte.
Jungs, was ist denn jetzt der Plan für heute?, fragte Freund 1. Alfons nuckelte weiterhin wenig interessiert an seinem Bier. Er war für genau eine Sache hier und das wussten auch alle. Der Rest war ihm grundlegend egal. Alfons war Teil eines unausgesprochenen Abendprogramms. Genauso waren die anderen allerdings auch für nur eine Sache da – und die lautete nun einmal saufen.
Erstmal entspannen. Kein Grund jetzt rumzustressen, antwortete Freund 2, womit der Trupp auch im Stillen konform schien.
Ja, aber danach meine ich.
Kein Plan, Kiez oder so, schaltete Freund 3 sich ein. Jetzt erstmal Fresse halten und Bier.
Geil, musste sich Alfons gedacht haben. Keine 10 Minuten und schon kommt der Erste mit kiezen an. Hab richtig Bock. Wenn er schon so anfängt, dann wird das sicherlich ein richtig guter Abend werden. Das war das Schöne daran, einfach nur in Gedanken zu sein. Es war vollkommen egal, wie sarkastisch, pampig und plump man auch sein mochte, niemand war hiervon beleidigt, denn niemand konnte es hören. Schön.
Alfons hatte ausgetrunken und war damit nicht allein. Noch ein Bier?, fragte Freund 2 in die Runde, hätte er aber eigentlich auch sein lassen können, denn natürlich wollte jeder noch ein Bier. Der Trupp machte beim nächsten Kiosk halt, jeder drückte Freund 2 einen Euro in die Hand, während er im Begriff war seine Maske aufzusetzen – perfektes Timing – und dieser verschwand kurzerhand, bis er mit vier neuen Astra aus dem heruntergekommen Klientel hervorkam, mit je zwei Bier in jeder Hand. Freund 1 zückte sein Feuerzeug, ließ es viermal Plop! machen, dann hieß es wieder Fresse halten und Bier trinken. Für einen Moment war der Trupp glücklich.
Der Trupp. Wer hatte damit eigentlich angefangen? Wusste Alfons auch nicht mehr, aber irgendwann wurde es halt zur Eigenbezeichnung. Ging wahrscheinlich nur darum, nicht Die Jungs, Die Crew, Die Gang oder irgendwas in der Richtung zu heißen. Die Jungs und ich gehen einen heben. Die Crew wartet schon auf mich. Die Gang sagt heute wird richtig ehrenlos. Klingt doch alles scheiße. Aber Der Trupp, das hatte irgendwie Charakter. Klingt wie eine Beschreibung, die irgendwelche Arschlöcher benützen würden. So Arschlöcher, die auch benützen statt benutzen sagen. Hauptsache kein Standardscheiß, klare Sache. Der Trupp also. Alfons beschloss, auch das war ein gutes Wort, aber ihm brummte schon wieder der Schädel. Dabei war er gerade mal beim zweiten Astra. Ach, das reichte ihm so langsam, war genug.
Wird Zeit zu singen, musste sich Alfons gesagt haben.
Zuerst dachten die Leute, irgendjemand hätte einfach nur seine Musik zu laut laufen. In der Schanze lief eigentlich immer irgendeiner mit einer Musikbox unterm Arm rum, der meinte, das ganze Viertel müsste jetzt mit ihm Musik hören. Ist nicht so, dass das die Leute weiter störte. Das ist ein bisschen wie Sex in einem Mehrfamilienhaus mit besonders dünnen Wänden: Man gewöhnt sich einfach dran, akzeptiert das als Hintergrundgeräusch und widmet sich weiterhin der eigenen Sache, was auch immer die eigene Sache sein mochte. Für einen Bruchteil, welcher zwei Sekunden überstieg, nahm man das ganz grundsätzlich nicht wahr.
Alfons reichte das nicht. Weder war er ein Hintergrundgeräusch, noch war er der Lärm irgendeiner Musikbox. Alfons war die Hauptattraktion. Also sang er – er sang mit allem Herzblut, welches seine Adern durchfloss, mit jedem Gefühl, welches ihm überkam und mit keinem Wort, das er jemals gelernt hatte. Auch nicht mit den paar guten, die es gab. Ululationen, Melismen, Koloraturen – und die Leute lauschten auf die Realisation hin, dass da wirklich einer singt.
Irritierte Blicke wurden ausgetauscht, zwischen Menschen, die sich gar nicht kannten, sondern an diesem Abend einfach nur rein zufällig in greifbarer Nähe voneinander saßen. Eine Beziehung, welche das Beobachtertum andernfalls gar nicht übersteigen sollte, doch verband Alfons die Fäden miteinander.
Singt da einer?, fragte ein ansonsten stiller Raucher, welcher mit seinen Freunden im Außenbereich einer kleinen Bar saß und sich von Alfons Gesang vollkommen aus seinen eigenen, abwesenden Überlegungen gerissen sah.
Was singt der denn? Ist das türkisch?, wunderte sich die Quotendeutsche, die aus dem Dönerladen weiter vorne kam, mit eben einem solchen, und dabei gar nicht registrierte, dass die Sauce (Kräuter, Scharf, Knoblauch) auf die frischgekaufte Hose, welche heute erst geliefert wurde (Zalando) tröpfelte.
Jungs, das ist doch kein türkisch. Integriert euch mal!, erklärte irgendein Kerl einem Teil seiner Crew, welche dieselbe Frage stellten, während man im Außenbereich des kleines Clubs gegenüber eine kleine Pause einlegte. Der Rest der Gang war noch drinnen.
Muss man ihm ja lassen: Der Junge fühlts auf jeden Fall, meldete sich der Raucher wieder. Ist die Stimme einer Generation. Ich weiß nur nicht von welcher.
Ein leichtes Lachen ging durch die Runde. Stimmte ja schon irgendwie.
Alfons beendete seine Nummer mit einer ganz besonders langgezogenen Note. Das wars. Die Leute applaudierten – bescheiden, gediegen und ein bisschen verwirrt. Bei der Kneipe, beim Dönerladen, beim Club. Niemand konnte so richtig sagen, was da gerade passiert ist, war aber definitiv ganz cool. Fest stand für alle: Wenn er schon so anfängt, dann wird das sicherlich ein richtig guter Abend werden.
Starke Nummer, Alf, meinte Freund 2 und gab anerkennend einen Daumen nach oben. Alfons bedankte sich in Form eines Nickens.
Und was jetzt, Jungs?, fragte Freund 1.
Lasst mal kiezen, erwiderte Freund 3.
Alf seufzte unter vorgehaltener Hand. Musste ja niemand sehen. Ach, was solls. Besser wird er dadurch nicht, aber sicherlich ein richtig guter Abend, wenn er schon so anfängt.
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