Mit gerade mal sechs Jahren hat Udo sein erstes Schwein getötet. Nicht weil er wollte, sondern weil er sollte – und ab da war eigentlich schon klar, in welche Richtung sein Leben gehen wird.
Sein Vaddern war Metzger. Dem sein Vaddern davor auch. Und dem sein Vaddern davor hat auch Schweine getötet, nur halt nicht die Tiere. Familientradition.
Eine Sache pflegte Udo sein Vaddern, Werner hieß er, stets zu sagen: „Selbst ist der Mann, Udo!“ – und mit diesen Worten reichte er seinem Sohn erstmalig die Elektrozange. „Selbst ist der Mann“, sagte Udo sich. „So und nicht anders.“
Udo war kein sonderlich guter Schüler, aber ihm war das grundlegend egal. Seinen Eltern eigentlich auch. Die drei wussten ja, wohin das Leben ihn trägt. Nie musste er sich Sätze anhören wie Möchteste etwa Maurer werden oder wat?!, wenn er eine schlechte Schulnote mit nach Hause brachte. Seine Eltern und er wussten: Udo wird Metzger. Nie sagten die Lehrerinnen und Lehrer ihm: Du musst dich wirklich mehr anstrengen. Willst du nicht studieren gehen, Udo? Sie wussten es besser: Udo wird Metzger. Nie fragten seine Freunde, Freundinnen hatte er nicht, Was möchtest du werden, wenn du groß bist? Sie wussten es ja schon. Alle wussten es: Udo wird Metzger.
Ein kräftiger, simpler Kerl, der irgendwie immer nach Schinken roch und das Gemüse in der Kantine stets beiseiteschob (außer gekochte Kartoffeln und Karotten und vor allem Erbsen, die waren ganz okay – manchmal auch Kohl). Manchen Menschen steht ihr gesamtes Wesen auf die Stirn tätowiert und auf Udos stand Metzger.
So kam es dann halt und so kam es dann halt. Irgendwann übernahm er die Metzgerei seines Vaddern Werner in Altona. Das konnte sich gentrifizieren wie es wollte, Udo blieb genauso wie das Schild über der Metzgerei selbst, welches einen kleinen Namenswechsel unterlief, mehr eigentlich auch nicht.
1939
METZGEREI UDO
FEINSTE FLEISCHAUSWAHL FÜR ALLE • SEIT DREI GENERATION IM FAMILIENBETRIEB • AUS BESTER HALTUNG
Irgendwann heiratete er seine Frau, Franzi, kurz für Franziska, und manchmal vögelten die beiden auch miteinander, aber eher selten. Hat für einen Sohn gereicht, Till. Niemanden überraschte es so sehr wie Franzi, dass das tagtägliche Abschlachten und Ausweiden von Tieren jemanden desensibilisieren könnte, aber na ja, so ist das Leben und somit nahm sie recht schnell, wenn auch resigniert, Abschied vom aufregenden Gedanken der ganz besonders großen Liebe, von welcher alle noch zu Schulzeiten schwärmten. Franzi hatte den kräftigen, simplen Udo und der kräftige, simple Udo war ja eigentlich auch ganz okay. Das musste nun mal reichen.
Sowas Ähnliches dachte sich auch Udo. Er erweiterte das Sprichwort seines Vaddern: Selbst ist der Mann – und es gibt nichts, was eine Frau, aber nicht meine rechte Hand auch kann. Es sind Phrasen wie diese, welche einen wundern lassen, ob aus Udo der nächste große Poet seiner Zeit geworden wäre, hätten die ihn unterrichtenden Lehrkräfte etwas mehr Ergiebigkeit gezeigt. Schade eigentlich.
Udo wusste, dass das Viertel um ihn herum sich irgendwie veränderte, dafür musste man nur mal die Augen aufmachen. Ruppige Altbauten, welche Udo bereits seit seiner Kindheit vertraut waren, wurden Stück für Stück abgerissen und durch irgendwelche aalglatten Bürogebäude ersetzt, welche förmlich Arbeitswelt 4.0 zu schreien schienen. Stände, welche Udo schon in jungen Jahren und darüber hinaus frequentierte, wurden eines nach dem anderen von deren Vorbesitzern und -besitzerinnen verlassen, im Anschluss renoviert und wiesen mit mehr oder minder schicken Leuchtreklamen auf so hippe Neuprodukte wie vegane Matcha Latte mit hausgemachter Mandelmilch oder Avocadotoasts mit handgeformten Sauerteigbroten hin. Doch abseits einer gewissen Nostalgie für die Läden seiner Kindheit, hatte Udo zu alledem eigentlich keine konkrete Meinung. Sachen kommen, Sachen gehen – so ist das halt. Udos Metzgerei war noch da und der Rest war eigentlich auch egal.
Eine Meinung hierzu brauchte er jedoch auch gar nicht haben, denn dafür hatte Udo seinen besten Freund Herrmann – und Herrmann hatte ganz prinzipiell eine Meinung zu beinahe allem.
Es wäre falsch und viel zu einfach, Herrmann als dummen Menschen abzutun, obschon er etwas einfältig war. In einer opportuneren Welt wäre womöglich ein recht anständiger Kerl aus ihm geworden, aber so weit kam es nie. Zum Mundstück der Gedanken Udos sollte es dennoch reichen; damit Udo nicht denken musste, hatte er Herrmann – und dieser war ganz und gar, was man sich so vorstellt, wenn man an einen Typen denkt, der nun mal Herrmann hieß.
Herrmann war Handwerker von Beruf und wann immer er einem Auftrag nachging, fragte er erst einmal nach dem Herrn im Haus. Frauen hörte er da ganz grundlegend nicht zu, die verstehen doch ohnehin nix von der Handwerkerei.
Jeden Feierabend ging er zum nächstgelegenen Kiosk, kaufte sich zwei Dosen 5,0 Original Pils und quarzte auf dem Heimweg gemütlich eine Zigarette. Seine Lieblingsmarke war SMART, das Hausprodukt vom Penny, nicht nur wegen des billigen Preises und recht kratzigen Tabaks, sondern auch, weil der Name ihn einfach anzusprechen schien. SMART – das war ein guter Name, beschloss Herrmann, und er passte zu ihm. Nur in knappen Monaten stieg er auf Schwarzer Krauser um, ansonsten rauchte er SMART. Den ganzen Abend lang, mit seinen Bierdosen neben sich und der Fertiglasagne aus der Mikrowelle – welche er seit dem Skandal in 2013 so gerne mit einem hämischen Lachen als Pferdeauflauf bezeichnete –, bis er dann irgendwann leicht alkoholisiert vor seinem Fernseher einschlief, mit irgendeinem Pornosender im Hintergrund. Morgens stand er dann leicht benebelt auf, trank einen Pott Kaffee und kaufte sich beim Bäcker ein Brot mit Schinken samt BILD-„Zeitung“, woraufhin sich das ganze Prozedere wiederholte.
Das war dem Herrmann sein Leben und das ließ sich auch nicht ändern. Es gefiel ihm nicht sonderlich und weil dem so war, musste Herrmann sich bei jeder Gelegenheit aufspielen, wichtigmachen – am besten, indem man andere Sachen in Grund und Boden stampft. Das war am einfachsten – es gibt nur wenige Sachen, die so einfach sind, wie etwas schlechtzureden. Ist auf jeden Fall einfacher als die Welt ein bisschen erträglicher zu machen – und nur deswegen hatte Herrmann zu allem eine Meinung, welche er Udo stets auftischte, wenn der am Wochenende auf ne Bockwurst und ein paar kühle Blonde vorbeikam.
„Dat soll jetzt Schokokuss heißen, haste gehört? Dat is politisch korrekt. Mensch, Udo, die Welt geht vor de Hunde, ich sachs dir. Mir doch egal, ob n Mensch weiß, schwarz, rot, gelb oder grün ist. Meine Güte, watn Schwachsinn. Da fällt mir ein, neue Nachbarn ham wa hier. Dat sind Muslime – bei denen muss man vorsichtig sein, ich sachs wies ist. Denen trau ich keine Sekunde übern Weg.“
„Die wollen jetzt Kohlekraftwerke dichtmachen, Udo, haste gehört? Für den Klimaschutz. Pipapo, sag ich da! Wat is mit der Wirtschaft, Udo? Hm? Da denkt wieder keiner dran, ich sachs dir. Alles Idioten die da oben. Wir müssen als Land ja auch wettbewerbsfähig bleiben. Ich sachs wies ist, lass diese Linksgrünversifften an die Regierung und in zwei Jahren hat uns selbst Polen eingeholt. Ne Schande is dat.“
„Mittlerweile sind ja alle Deutschen Nazis, Udo! Dat hinkt uns immer noch nach, Mensch. Nicht mal mehr stolz auf seine Herkunft darf man sein, Udo. Nicht mal das. War ja damals nicht gut was da so passiert ist, sach ich ma, aber mittlerweile is dat ja alles ganz anders, nä? Nee du, man muss von der Vergangenheit manchmal auch ablassen, sach ich dir.“
„Dieses Gendergaga, Udo, zum Kotzen is dat! Ham wa denn keine größeren Probleme? Fräulein bleibt halt Fräulein und Männlein halt Männlein, dat hat die Natur halt so vorgesehen, ganz einfach is dat. Als nächstes heiß ich statt Herrmann noch Menschmensch, haha!“
Udo hatte zu alledem nicht so richtig viel zu melden. Meist saß er einfach nur da und hörte zu. Herrmann war schlauer als er, das wusste er, und dementsprechend hörte er einfach auf ihn. Wird schon stimmen. Von Politik verstand er ohnehin nicht viel und dementsprechend sei es einfach klüger nichts zu sagen, dachte sich Udo. Wer keine Ahnung hat, sollte nicht mitreden, war ihm sein Mantra und das machte ihn allgemein sehr wortkarg. Nur zu Fleisch, da hatte er was zu melden – etwa zu Herrmanns Lasagne.
„Ich versteh net, wie du den Fraß überhaupt essen kannst, Herrmann. Dat is doch gar kein richtiges Fleisch. Allein wie die gehalten werden, dat schmeckt man doch schon. Ich weiß dat, glaub mir. Da ess ich lieber ne Stange Sellerie als son Scheiß.“
„Schenk mir was von deinem und dann ess ich vielleicht auch mal gut, Udo. Haha!“
„Tu ich doch schon – und dat verkackste dann trotzdem. Bin kein wählerischer Esser, weißt du auch, aber schmeckt immer scheußlich bei dir. Kannst das beste Fleisch haben: Wenn mans nicht ordentlich würzt, schmeckts einfach nicht.“
Herrmann hasste Widerstand, vor allem von Udo. „Oh, verstehe, soll ich mir lieber son veganen Fleischersatz kaufen oder wat? Dat haben die bestimmt schon ordentlich gewürzt, damit das überhaupt nach was schmeckt!“ Geschickter Themenwechsel. Er nippte an seinem Bier. „Versteh sowieso nicht, wat der Scheiß soll. Fleisch essen oder nicht, jedem dat Seine. Aber dann muss man sich doch nicht irgendeinen Sojabums zusammenpressen. Und jetzt trink dein Bier aus, Udo, sonst langts gleich.“
* * *
„Jut, Till – wir fangen mit nem Huhn an. Dat ist einfach, hat mein alter Herr mir auch als erstes beigebracht.“
„Musste dat denn sein, Udo? Er ist zwölf, Mensch. Da muss man doch noch nicht wissen, wie man ein Huhn zerlegt.“
„Hömma, in dem Alter musst ich schon weitaus Schlimmeres machen, Franzi!“ Udo störte sich an Franzis Geplänkel. Die Fleischerei war mittlerweile sowas wie eine stolze Familientradition, welche von Vater zu Sohn weiter und weitergegeben wurde. Sofern man im Stammbaum Udos jemals von Business reden konnte, so war es hierbei – doch nicht nur das, nein. Das Geschäft war Udo in diesem Sinne eigentlich relativ egal. Es ging um die Zeit, welche er mit Till verbringen konnte, wenn es auch nur wenig war. Die beiden waren nie so richtig auf einer Wellenlänge; Kommunikation war spärlich und sich so richtig aussprechen konnten die beiden sich auch nie, denn sie waren Männer und bevor Till 16 war und Bier trinken durfte, war Gefühlsduselei zwischen den beiden einfach noch nicht drin.
„Aber er möcht dat doch offensichtlich gar nicht, Udo.“
„Er möcht dat nicht?“ Udo sah seinen Sohn an. Sein eigen Fleisch und Blut, sozusagen, doch fand Udo diesen Wortwitz schon bei seinem Vater schrecklich platt. Und kaum schaute er ihm in die Augen, sah er, wie verstörend Till diese ganze Situation wahrnahm. Er möcht dat doch offensichtlich gar nicht, war eine beinahe unverschämte Beschönigung und es dünkte Udo in diesem Moment, dass er so in Ekstase darüber war, seinem Sohn etwas übers Familienhandwerk mitzugeben, dass er sich vorher gar nicht gefragt hat, ob Till das denn auch möchte. Er hat ja auch gar nicht gefragt, sondern einfach nur gesagt: „Komm Till, ich zeig dir mal wat!“
Udo legte sein Fleischermesser beiseite, sowie das Huhn, welches er in der anderen Hand hielt, und fasste sich mit dieser nachdenklich an die Nase; ein paar Salmonellen schnupfen. „Stimmt Franzi, er möcht dat nicht.“
Alle wussten es als er ein Kind war: Udo wird Metzger – und Udo verstand jetzt erst, dass die Richtung, in welche Tills Leben verlaufen wird, weitaus weniger klar ist; dass Udos Metzgerei womöglich bis ans Ende ihrer Tage auch bei diesem Namen bleiben wird und ihr mit der Rente Udos ein recht klares Ablaufdatum aufgestempelt wurde.
Er schmunzelte überaus unpassend. Ablaufdatum aufgestempelt, dachte sich Udo. Noch so ein Metzger-Wortwitz.
Udo schnaubte einmal tief durch und bereitete sich somit auf das emotionale Nonplusultra des durchschnittlichen Vaters vor: Er entschuldigte sich.
„Schon gut“, sagte Till und verschwand in sein Zimmer.
Franzi warf Udo einen abwertenden Blick zu, gepaart mit einem leichten Kopfschütteln, und verließ die Küche, sodass nur noch Udo übrigblieb.
Verrückte Welt, dachte sich Udo und musste an eine einstige Tirade Herrmanns denken: „Ich sachs dir, Udo, Traditionen müssen aufrechterhalten werden. Dat is wichtig, darum sinds doch erst Traditionen! Dat weiß die Jugend von heute gar nicht mehr wertzuschätzen. Eine nach der anderen schaffen se ab und irgendwann erkennste Deutschland nur noch an seiner Flagge, wenn man die bis dahin nicht auch durch nen Regenbogen ersetzt hat, haha!“
Aber wenn Till das nicht möchte…
Udo zuckte mit seinen Schultern. Ist vielleicht gar nicht mal so schlimm.
* * *
Es war Samstag – und Samstag war Herrmann-Tag. Udos Freude hielt sich diesmal in Grenzen; der aggressive Tenor seines besten Freundes hing ihm momentan gehörig zum Hals raus, zumal ein jedes Treffen der beiden sich recht prägnant als Best Of der dümmsten BILD-Headlines zusammenfassen ließ. Nicht unbedingt Udos Gedenkangang diesbezüglich, jedoch passend.
Klar, manchmal hatten die beiden auch Spaß miteinander – wenn er wollte, konnte Herrmann ein ziemlich witziger Typ sein, fand Udo, aber meistens wollte er das nun mal nicht. Einen Film könnte man auch mal wieder gucken – da ist Herrmann dann zumindest mal still für zwei Stunden. Kurzum: Es ist nicht so, dass Udo ein konsequentes Problem mit den Tiraden Herrmanns hatte, sonst wären die beiden schon längst keine Freunde mehr, doch würde Herrmann zwischendurch auch mal still sein, würde ihn das auch nicht stören.
Udo klingelte.
„Komm rein, komm rein, kannste rausgucken, haha!“, eröffnete Herrmann und rang Udo mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter in die Zweizimmerwohnung. Von rausgucken konnte allerdings auch nicht so richtig die Rede sein, merkte Udo, denn Herrmanns Fenster wurden mit Sicherheit seit dessen Einzug nicht mehr geputzt und waren von so einer dicken Schicht Zigarettenabsatz überzogen, dass man die Außenwelt hierbei eigentlich durch einen Sepiafilter sah.
Auf dem Fliesentisch im Wohnzimmer stand ein frisch geleerter Aschenbecher bereit, dessen Außenwände rettungslos von den grauen Überresten einstiger Fluppen beschlagnahmt wurden, sowie ein Six Pack Bier, versehen mit einzelnen, sich sammelnden Wassertropfen, bestehend aus dem feuchten Film, welcher die Flasche überdeckte. Der Morgentau des einfachen Mannes, frisch aus dem Kühlschrank: Ein Sextett derben Holstens.
„Ist Ende des Monats oder warum das gute Bier?“, fragte Udo scherzhaft.
„Statt der Dose dacht ich, ich kauf heute mal in der Greta-Edition, haha!“, antwortete Herrmann, wobei er Edition herzhaft eingedeutscht als Eddischn aussprach.
Den Euro mehr für nen schlechten Witz ausgegeben – toll, dachte sich Udo, beließ es jedoch lediglich beim Gedanken. War ihm auf jeden Fall lieber als die Pisse aus der Dose, wenn Udo auch kein sonderlich wählerischer Trinker war. Da wollte er sich also nicht beschweren.
„Na, wie läufts, Udo? Wat gibts Neues?“ Die klassische Fangfrage Herrmanns, denn die Antwort war ihm eigentlich egal, ihm ging es lediglich um das „Und bei dir?“, das darauffolgte, damit er dann so richtig loslegen konnte – und so kam es auch.
„Kann nicht klagen“, sage Udo, was Herrmann wiederum gar nicht so richtig registrierte. „Und bei dir?“
Ah, da ist es, musste sich irgendwas schrecklich Rudimentäres in Herrmann gedacht haben. Mein An-Schalter. Es hat Klick gemacht. Klick! Los geht’s. Ich laufe. Ich bin ein Dieselmotor, der halbgare Meinungen produziert. Klick! Die alte Pumpe läuft noch, immer und immer besser. Klick, klick, klick!
„Ach, hör mir auf, ey. Ich sachs dir, Udo. Hätt gestern schon wieder im Strahl kotzten können.“
„Wie das?“, fragte Udo ähnlich desinteressiert, mit dem latenten, doch nicht unwichtigen Unterschied, dass er auch tatsächlich zuhörte.
„Bin ich gestern im Supermarkt, nä? Hol unser Bier, n paar Bockwürste, dass wir auch was zu futtern haben, und dann überkommt mich der kleine Hunger beim Bummeln. Dacht mir, ich hol mir ne Stulle mit Salami, hat ja mittlerweile sone To-Go-Abteilung, jeder Supermarkt.“ Zentwitsch. „Und dann seh ich da sonen Lulatsch, wie der im Regal neben mir paar Packungen vegane Mortadella käuft.
„Also erstmal, Udo – wenn dat vegan is, dann is dat ja schon mal keine Mortadella, so viel Zeit muss sein! Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn.
„Aber gut, weiter im Text. Mir kommt dann auf jeden Fall ne Idee: Ich guck mal, wat der Spinner sich noch so einpackt. Latsch ich ihm also im Supermarkt hinterher, scheint er nicht mal wirklich bemerkt zu haben, und seh, dass er als nächstes nach soner Hafermilch da greift – und rinn in den Korb damit.
„Schau ich mir also mal genauer an den Quatsch und seh da erstmal an der Seite in dicken Buchstaben SO LOKAL geschrieben. Aber man muss ja immer dat Kleingedruckte lesen, nä? Und dann steht drunter wie möglich, mit Hafer aus Europa, unter anderem Finnland und Frankreich. So viel dazu – werden genauso übers Ohr gehauen wie alle anderen auch und denken dann, sie würden die Welt Milchkarton für Milchkarton retten, haha! Idioten sind dat, Udo, ich sachs dir.
„Mensch, jetzt mal ganz im Ernst: Die ham se doch nicht mehr alle. Ich sachs wies ist. Milch kommt von ner Kuh auf ner Wiese, so muss dat und dat lass ich mir auch nicht verbieten. Ganz einfach.“
Udo trank einfach sein Bier und sagte da nichts weiter zu.
* * *
Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere auch in der Metzgerei Udo. Nichts Besonderes – kein Indiz dafür, dass Udo heute erstmalig die Richtung, in welche sein Leben so prädestiniert verlaufen sollte, selbst bestimmte. Kein ominöser Sturm, welcher etwas Größeres mit sich brachte. Kein Kaffeesatz aus dem gelesen wurde, Udo dürfte demnächst eine große Veränderung in seinem Leben erwarten. Kein Bauchgefühl auf dem Weg zur Arbeit, heute würde etwas Unerwartetes passieren. Es war einfach nur ein ganz normaler Tag in Hamburg, mit feinstem Schietwetter, von dem Udo sich in etwa so viel erhoffte wie von allen anderen Tagen auch: Nix. Schließlich kündigt Veränderung sich nur selten mit einem lauten Knall an, ganz im Gegenteil. Sie schleicht sich an und ehe man sich versieht, zack, ist sie einfach da – so unwiderruflich wie plötzlich.
Um viertel nach zwei etwa kam son flotter Kerl in Udos Metzgerei, welchen Herrmann mit Sicherheit als Linksgrünversifften bezeichnet hätte, Udo hingegen einfach nur als einen jugendlichen Großstädter; die allgemein anerkanntere Bezeichnung wäre allerdings Hamburger Hipster.
Gelber Beanie, schlecht gestutzter, lückenhafter Bart à 5mm, dunkler Hoodie mit irgendeinem kecken Spruch drauf, Second-Hand-Jeansjacke vom Flohmarkt, schwarz-weiß karierte, hochgekrempelte Hose, neon-orangene Socken mit kleinen Kakteen als Motiv, einst weiße Sneaker, nun in der Farbvariante Eierschale, welche so ausgeleiert waren wie dreckig, und natürlich die unverkennbare, über die Schulter gespannte Bauchtasche, aus welcher eine einsame Tüte Pepe-Tabak raushing. Ein beinahe exemplarisches Paradebeispiel, welches durch einen fötiden Zigarettengestank samt einer Flasche Club Mate in der Rechten abgerundet wurde. Wäre dies Herrmanns Metzgerei, hätte er den Burschen wahrscheinlich allein bei dessen Anblick rausgeworfen, doch war dem nicht so und als in Altona ansässige Person, war Udo mehr als vertraut mit solchen Gestalten; hier sah jeder zweite so aus. Auch bis hierhin war also alles normal.
„Moin moin!“, sagte dem Udo sein Kunde.
„Moin moin!“, sagte auch Udo. „Was darfs denn sein, der junge Herr?“
„Hühnerbrustfilet. Zwei Stück bitte.“
Udo schnappte sich das Fleisch und packte es auf die Waage.
„So gut?“
„Perfekt, danke.“ Der Bursche bezahlte, wünschte Udo einen schönen Tag noch und war im Begriff den Laden zu verlassen, bevor er sich doch noch einmal abrupt umdrehte.
„Mir fällt grad ein, darf ich Ihnen ne Frage stellen?“
„Klar. Darfst mich auch duzen.“
„Umso besser. Also: Ich bin Flexitarier.“
„Wat is dat denn? Ne Krankheit? Ach du liebes Lieschen, dat tut mir aber leid du.“ Herrmann hätte nun sein hämisches haha! beigefügt, Udo hingegen wusste es tatsächlich einfach nicht besser.
Der Bursche nahms mit Humor und schmunzelte leicht. „Nein, Quatsch. Das heißt, ich ernähre mich hauptsächlich vegetarisch, aber wenn ich mal Fleisch kaufe, versuche ich zu gucken, wos herkommt. Gibt auch solche, bei denen das einfach bedeutet, sie essen einmal die Woche oder so Fleisch. Geht einfach um einen verantwortungsvolleren Konsum. Ist ein guter Mittelweg für Leute, die Massentierhaltung nicht unterstützen wollen, aber für den eigenen Genuss auch nicht vollkommen auf Fleisch verzichten möchten. Oder warum auch immer, ist ja eigentlich egal. Man tut halt irgendwie auch seinen Teil, Stück für Stück.“
„Ach so, verstehe“, sagte Udo. Klang für ihn zumindest mehr oder minder einleuchtend. Für einen Moment grübelte er sogar, ob er sich das auch vorstellen könnte, schüttelte den Gedanken dann allerdings schnell ab.
„Ist in meinem Freundeskreis auf jeden Fall nicht großartig anders. Sind vielleicht ein bisschen konsequenter als ich, aber na ja“, setzte der Bursche fort. „Wir waren da zumindest letztens einmal gemeinsam am Schnacken.
„Du wirst ja sicherlich von diesen ganzen vegetarischen und veganen Ersatzprodukten gehört haben, nä? Die sprießen aktuell förmlich aus dem Boden.“
Sofern es jemals einen vegetarischen Metzger-Wortwitz gab, so war es dieser, doch nahm Udo das gar nicht wahr.
„Mehr als mir lieb ist. Nicht falsch verstehen“, meinte Udo.
Der Bursche zuckte einmal entspannt mit den Schultern. „Alles gut. Ich nehm mal an, du bist denen nicht allzu positiv gesinnt?“
Udo schnaubte einmal – beinahe so als wäre das eine Frage herkulischen Ausmaßes. Vielleicht war es das auch. „Na ja, was soll man sagen, nä? Begeistert bin ich nicht. Macht mir natürlich Konkurrenz.“
„Und genau das ist der Punkt“, sagte der Bursche. Irgendetwas funkelte in seinen Augen auf, Udo sah es sofort. „Das Ding ist, viele dieser Fleischprodukte sind nicht so richtig gut. Die Optik ist nicht schlecht, klar, aber geschmacklich reicht das oftmals einfach nur an verdünnten Branntweinessig. Ich weiß nicht, ob das vielleicht daran liegt, dass diese Produkte zumeist von Leuten gemacht werden, die selbst seit Jahren kein Stück Fleisch zwischen den Zähnen hatten, aber gut. Das ist natürlich etwas suboptimal, denn das macht auch den Umstieg für viele Leute schwieriger; man kann ja Fleisch grundsätzlich gerne mögen, es aber aufgrund der Haltungsbedingungen trotzdem nicht essen wollen. Ich denke mal, du als Metzger verstehst das – zwischen soner Hühnerbrust ausm Supermarkt und einer vom Metzger liegen ja schon Welten.“
Zu seiner eigenen Überraschung leuchtete auch das Udo ein – er fand es sogar vollkommen logisch.
„Darüber hatten meine Freunde und ich halt geredet – und wir dachten, was wäre, wenn jemand vom Fach mal sowas entwirft? Jemand, der alles weiß, was es über Fleisch so zu wissen gibt, worauf man achten muss und überhaupt. Wäre doch gar keine so schlechte Idee, oder?“
Der Bursche hatte Udo nun, doch irgendwas in ihm sträubte sich noch. Nicht die Gewohnheit, die Berufsehre oder dergleichen – nein. Es war vielmehr ein kleiner Herrmann, welcher aus der mentalen Kuckucksuhr, zu welcher Udos Hirn über die Jahre verkam, heraussprang als hätte es gerade zwölf geschlagen, und mit jedem Mal, wo die Tür sich öffnete, schrie: Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn. Und nochmal. Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn. Ein weiteres Mal. Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn. Und immer so weiter.
„Mag schon sein“, erwiderte Udo dementsprechend stumpf.
„Kannst du ja mal drüber nachdenken, wenn du möchtest“, sagte der Bursche, welcher nun im Begriff war den Laden zu verlassen. „Wäre auf jeden Fall für ne gute Sache, denke ich.“
Nun war auch irgendwas schrecklich Rudimentäres in Udo erwacht. Etwas, das seit seiner Kindheit so abgestumpft wurde, dass es bisweilen verrostet sein musste. Ein verlorener Fall, würde man meinen – kaputt, funktionsunfähig. Da müsste schon ein neues Modell ran, das hier kann auf den Schrotthaufen. Die alte Pumpe läuft nicht mehr. Das Ding ist im Arsch.
Umso erstaunlicher ist, was als nächstes passierte.
Klick.
* * *
„Ich weiß ja nicht, Udo…“ Nervös stocherte Franzi in ihrem Kartoffelbrei rum. Die Familie aß gemeinsam zu Abend als Udo sein Vorhaben verkündete.
„Ich geb die Metzgerei ja nicht auf und umkrempeln tu ich sie doch auch nicht. Es ist einfach nur ne Idee bisher, Spatzi. N kleines Experiment sozusagen. Es bleibt alles beim Alten.“
„Ja, Mensch. Udo. Wat soll ich sagen…“ Sie stocherte weiterhin in ihrem Kartoffelbrei herum; ein Gehabe, für das Till einen Anschiss bekommen hätte. Entweder du isst dat oder nicht, aber hör nur auf so rumzupulen!
Auch in Franzi sträubte sich etwas – nur was es in ihrem Fall nicht Herrmann, sondern tatsächlich die Gewohnheit. Sie scheute sich ganz konsequent vor jeder Art der Änderung. Nicht, weil sie alles so mochte wie es war, nein. Würde Franzi ihrem Leben eine Schulnote aufdrücken müssen, so wäre es eine 3+, ganz okay; die sinnbildliche Verkörperung von „Da ist noch Luft nach oben, hätte aber auch schlimmer sein können“ – jedoch war die Luft nach oben für sie relativ bedeutungslos. Sie hätte auch gar nicht da sein können, würde keinen Unterschied machen.
Es war doch alles akzeptabel – nicht zufriedenstellend, aber akzeptabel und der Gedankengang, es könnte schlimmer werden, beängstigte sie womöglich mehr als alles andere. Franzi suchte schlicht und ergreifend eine Konstante. Die Qualität dieser war nebensächlich – und Veränderung ist nun mal der natürliche Widersacher einer jeden Konstante. Für Franzi stand somit fest: Es bleibt definitiv nicht, auf keinen Fall, so ganz und gar nicht, niemals, in keiner Weise alles beim Alten.
Und so schwiegen die beiden sich einfach nur an und stocherten in ihrem Kartoffelbrei rum. Eine Erbse rollte deprimiert vom Tellerrand.
„Ich finds gut“, murmelte ausgerechnet Till schließlich.
Udo sah seine Frau und Franzi ihren Mann an und da bedurfte es gar keiner großen Worte mehr. So sehr sie sich auch sträubte, das würde sie ihm nicht nehmen wollen – können.
Die Familie aß ihren Kartoffelbrei. Den Erbsen ihr Fluchtweg wurde fortan verwehrt.
* * *
Wat es nicht alles gibt. Die sind gewieft, diese Veganer, dachte sich Udo, während er sich im Internet schlaumachte, was es denn so mit Ersatzprodukten auf sich hatte. Die Grundidee war eigentlich ziemlich einfach – ein bisschen so, als würde man einen Schwamm in einen Farbeimer tunken: Eine Basis, welche für sich geschmackslos ist, diesen allerdings gut aufnimmt, mit umami anreichern; der fünfte Geschmackssinn, wie Udo lernte. Fleischig, würzig, wohlschmeckend; Aminosäuren und Glutamat und son Bums – umami halt. Gut zu wissen, möchte er aber nie wieder verwenden das Wort – klingt wie son Begriff für Schlaumeier und so einer wollte er nun wirklich nicht werden. Er konnte förmlich hören, wie Herrmann darauf reagieren würde.
Wat is denn dat wieder fürn Scheiß? Fleisch schmeckt halt nach Fleisch, so einfach is dat. Punkt, fertig, aus.
Nicht, dass Udo das großartig interessierte. Herrmann hätte noch ganz andere Ansichten zu diesem Unterfangen.
Etwas Geschmackloses fleischig machen also. Hier hörte es mit der Einfachheit allerdings auf – und dafür brauchte Udo auch kein Internet. Das verstand er ganz selbstständig. Huhn und Rind schmeckten beide fleischig, klar wie Kloßbrühe. Dennoch aber vollkommen anders – Geschmäcker waren also etwas nuancierter und diese versuchte er zu imitieren. An Möglichkeiten mangelte es zwar wirklich nicht, aber na ja.
Fermentiertes, Pilze, Sojasauce, Tomatenmark, dunkler Essig, Algen (sind die denn vegetarisch oder vegan?) Hefeflocken und -extrakt, Selleriesalz – et cetera pp. Alles Mittel und Wege, um etwas fleischig werden zu lassen. Er hörte auch von zermahlenen Eisentabletten, um einen leicht blutigen Geschmack mitzugeben. Ziemlich clever alles, soweit er das beurteilen konnte.
Kurzum: Man müsste das Ganze nur irgendwie richtig kombinieren, aber das ist schon eine Hürde für sich – schließlich wollte Udo nicht, dass man sich denkt Ja okay, das schmeckt irgendwie nach Fleisch,sondern Ja okay, das schmeckt irgendwie nach Hähnchen. Und das ist nur der Geschmack, was ist mit Optik und Konsistenz?
Irgendwie hatte er sich das leichter vorgestellt. Sein Schädel begann zu brummen, aber Zähne zusammenbeißen und durch. Er brauchte einen Anhaltspunkt – kaufte sich einen Haufen von Ersatzprodukten, testete, machte sich Notizen.
Soja-Hack überzeugte ihn nicht. Zu dominant, häufig zu stark gewürzt. Was auch immer er damit kochte, es schmeckte nur nach dem Hack.
Seitan, ein ausgewaschener Weizenteig, war okay, beschloss er. Gute Konsistenz, meist aber optisch suboptimal.
Geschmack schrie meist, wie der Bursche es bereits sagte, nach Branntweinessig – wenig überzeugend in diesem Hinblick, aber damit ließe sich vielleicht mit arbeiten.
Am besten fand Udo Sachen auf Basis von Erbsenprotein. Noch nie von gehört, keine Ahnung, wie das gemacht wird, hatte aber kaum Eigengeschmack. Guter Stoff. Etwas zu mehlig vielleicht, aber da würde er sich schon was einfallen lassen. Erbsen sollten es also sein.
Abseits davon überzeugten ihn am meisten die „Chicken Nuggets“ und „Schnitzel“.
Also erstmal, Udo, wenn dat vegan is, dann is dat ja schon mal kein Schnitzel, so viel Zeit muss sein! Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn. Also erstmal, Udo, wenn dat vegan is, dann sind dat ja schon mal keine Chicken Nuggets, so viel Zeit muss sein! Fleisch ist aus Fleisch und alles andere ist Schwachsinn, höhnte Herrmann in seinem Kopf, aber drauf geschissen.
Alles mit Panade war zumindest lecker, ob mit oder ohne Fleisch. Eine einfache Regel fürs Leben. Darin lag immerhin all der Geschmack, wodurch sowas auch vegetarisch ganz gut funktionierte, stellte Udo fest.
Immerhin ein Anfang – ran ans Werk.
* * *
ERBSENNUGGETS #1
Pfui deibel.
ERBSENNUGGETS #2
Geschmack ok. Konsistenz nicht. Farbe zu rot.
ERBSENNUGGETS #3
Geschmack ok. Konsistenz nicht. Erbsenprotein evtl nicht gut f Nuggets. Vlt doch Seitan??
* * *
„Komm rein, komm rein, kannste rausgucken, haha! Na, wie läufts, Udo? Wat gibt’s Neues?“
„Viel zu tun, aber sonst alles beim Alten. Und bei dir?“
„Boah, Udo, ich hab da letztens ne Erbsensuppe im Supermarkt entdeckt, nä? Vom feinsten, ich sachs dir! Direkt aus der Konserve, rinn in Pott, dazu ein Stück Weizenbrot. Hammmmmer! Erste Sahne, ich sachs wies ist. Ganz adäquat. Und du meinst ich kann nicht kochen, haha!“
Udo schmunzelte.
* * *
SEITANNUGGETS #1
Fleisch fühlt sich an wie ein Schwamm. Länger kneten.
SEITANNUGGETS #2
Ganz gut, Panade aber langweilig. Weg von Semmelbröseln. Bierteig vlt?
SEITANNUGGETS #3
Gute Richtung. Etw Vodka u Speisestärke in d Teig f mehr Knusper.
SEITANNUGGETS #4
Irgendwas fehlt.
Verrückte Idee, aber ich probiers.
SEITANNUGGETS #5
Dat isses.
* * *
Franzi konnte es selbst kaum glauben als sie ihren ersten Bissen nahm: Es schmeckte. Wirklich gut sogar. Es war kein Fleisch, klar – das merkte man auch, aber nur auf dem ersten Bissen. Ein paar Schnapper mehr und das war eigentlich schon egal. Wäre das einer dieser Produkttests auf offener Straße, wo einem ein gratis Teststück serviert wurde, worauf irgendein schmieriger Typ dann fragte: Das würden sie auch so im Supermarkt kaufen, oder?, dann würde Franzi mit Joa, schon antworten.
„Ganz ehrlich Udo…“ Sie nahm noch einen Bissen. Ihm rutschte kurz das Herz inne Hose; rechnete mit dem schlimmsten. „Toll, toll, toll! Also wirklich – bin begeistert, Schatz.“ Und noch einer. Udo war stolz wie Bolle. Ein Gefühl, dass er so gar nicht richtig kannte. „Wie haste das gemacht?“
„Dat Geheimnis is ne Pilzbrühe mit etwas Sojasauce und ein paar Senfkörnern. Getrocknete Kräuterseitlinge, um genau zu sein. Die schmecken schon son bisschen nach Hähnchen, Franzi – spannend is dat. Dazu noch ein paar Gewürze, Gemüse und überhaupt. Allet von Pflanzen is dat! Unglaublich, ich sachs dir.“
Franzi nickte ein paar Mal bedächtig. „Wat es nicht alles gibt…“
Und für eine Weile sagte man einfach nichts und schwieg sich an.
All der Firlefanz, wenn man auch einfach ein Hähnchen nehmen kann. Wozu?, musste Franzi sich gedacht haben – und auch wenn Udo die Antwort kannte, hätte er sie wohl kaum überzeugend artikulieren können. Musste er für sich auch gar nicht. Er tat eine gute Sache und das wusste er – Franzi unterstützte ihn so gut sie konnte, aber ihre Zweifel waren noch im Stillen gut hörbar; dieser ungelöste Zwist zwischen Ist es gut? Ja – sehr sogar. Aber braucht man sowas denn? Würde ich das meinem Kind vorsetzen? Schwierige Kiste.
„Haste gut gemacht, Papa“, sagte Till letztendlich und unterbrach das Schweigen. Sein Teller war mittlerweile leer – und Udo grinste, wie er noch nie zuvor gegrinst hat.
* * *
Ein Monat ist nun etwa vergangen, seitdem der Bursche in Udos Metzgerei aufgetaucht ist – und wie nach einem perfekt gestellten Uhrwerk, tauchte er nach einem Monat auch wieder auf.
„Moin moin!“, sagte er wie auch beim letzten Mal.
„Moin moin!“, erwiderte Udo erneut. „Auf dich hab ich gewartet, min Jung.“
Der Bursche runzelte leicht die Stirn. „Ist das so?“
„Dat isso. Hömma, wir ham ja letztes Mal über Fleischersatz und son Bums geredet, nä?“
„Jo.“
Udo wackelte gespannt mit seinem Finger, beinahe so als hätte er eine wirklich raffinierte Lösung auf ein verzwicktes Problem entdeckt. Etwas, worauf noch niemand kam – aber Udo und Udo allein hatte die Lösung gefunden. So einfach – und doch kam niemand drauf. Stimmte vielleicht sogar. „Ich hab da wat für dich, wart mal kurz.“
Der Metzger verschwand kurzerhand im Rückraum seines Ladens, eilte zur Tiefkühlschublade und holte einen wiederverschließbaren Plastikbeutel mit etwa 12 seiner Nuggets hervor.
„Für dich“, sagte er und drückte dem Burschen das Gepäck in die Hand. „Vegetarische Nuggets. Oder vegan, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Waren zumindest schon ma inner Fritteuse. Gibst die nochmal rein in etwas heißes Öl, bis die schön goldbraun sind und dann lass es dir schmecken.“
Der Bursche guckte erstaunt. Beinahe so, als hätte man ihm irgendein längst verloren geglaubtes Relikt in die Hand gedrückt. Indiana Jones und die Fair Trade Gold Nuggets. Der heilige Gral des Veganismus – oder irgendson Blödsinn halt. Sprüche, die grad so lustig genug sind, um einmal drüber zu schnauben und auf irgendeiner Instagram-Seite zu landen, welche mehrfach am Tag irgendwelche Witze von Twitter recycelt, aber auch nicht witzig genug, als dass man drüber lachen würde. Comedians würden mit so niedrig hängenden Kalauern jedenfalls von der Bühne gebuht werden.
War aber eigentlich auch egal. Wenn auch nicht wegen schlechter Witze: Der Bursche lächelte einfach nur. „Ich bin ganz ehrlich: Hab nicht gedacht, dass du das tatsächlich versuchst. Wirktest nicht allzu begeistert.“
Udo zuckte mit den Schultern. „Wirst mich wohl an nem guten Tach erwischt haben, wat?“
„Allerdings. Bin grad ein bisschen überrumpelt, zugegeben. So oder so: Vielen Dank auf jeden Fall.“
„Ach, dafür net. Dann musste aber auch wiederkommen und mir sagen, wie du se fandest!“
„Na aber. Das ist jawohl selbstverständlich.“
Der Bursche wünschte einen schönen Tag – und dann ging er wieder.
* * *
Eine Fritteuse hatte der Bursche zwar nicht, aber einen Kochtopf und nen Bottich Öl, was auch vollkommen reicht, solang man nicht in der Gastro ist.
Wasser kocht – Öl brutzelt, was es weitaus gefährlicher machte und somit zum fettigen Endgegner eines jeden Kochanfängers. So schlecht war der Bursche in seiner Kompetenz dann aber doch nicht aufgestellt, wenn er sich auch jedes Mal beim Frittieren über seine erstmaligen Versuche schmähte, bei welchen er aus Respekt vor dem höllisch heißen Öl die Temperatur recht gering hielt. Keine gute Strategie, so pellt die Panade – und das bisschen was übrig blieb, war nicht weniger gatschig als ein Brot, das im Regen stehengelassen wurde. Man lernt aus seinen Fehlern: Go hard or go was anderes kochen – so einfach ist das.
Rinn ins heiße Fett – zack. Goldbraun – sind se. Ketchup – überteuert von irgendsonem hippen, neumodischen Handmacher-Szeneladen in der Schanze gekauft. Erster Biss –
„…scheiße sind die gut.“ Noch einer. Und noch einer hinterher. Es gibt kein größeres Kompliment als gefräßige Stille für den Koch oder die Köchin – und hier war sie.
Der Bursche leckte sich die Finger, um das letzte Bisschen dieser öligen Köstlichkeit in sich aufzunehmen, zu verinnerlichen – den Gaumen zu brandmarken.
„Der Mann ist ein Genie.“
* * *
Trotz der Fehlversuche waren Nuggets weiterhin ein relatives dankbares Unterfangen, wie Udo verstand und somit wollte er sich auch gar nicht zu lange auf seinem Erfolg ausruhen. Viel wichtiger war die Frage: Was kommt als nächstes?
„Einzelne Fleischschnitte nachzuahmen, Franzi, dat is nicht einfach. Dat weiß ich jetzt schon – aber ich sach mal lieber einen Hähnchenschenkel nachmachen als ein ganzet Hähnchen. Oder ein Steak oder so“ – Steek ausgesprochen – „da bin ich beim besten Willen auch überfragt. Und weißte wat dat heißt?“
„Dass du verarbeitetes Fleisch nachmachen musst, nä?“ Scharfsinnig.
„Jawollo! Und weißte, wat der König des verarbeiten Fleisches ist?“
„Presswurst.“
„Papperlapapp.“
„Ach so – joa dann Hack, oder?“
„Ge-nau-stens, Franzi! Genaustens. Und ich glaub, dat krieg ich noch gut hin. Dat inne Form pressen ist ja einfach – die werden dafür auch nen Fleischwolf benutzen.“
„Dat is richtig.“
„Und du, Franzi – ich hab da noch ne ganz andere Idee. Hömma–“ Udo flüsterte ihr ins Ohr. Geheimniskrämerei unterm eigenen Dach ohne guten Grund.
Franzi grübelte für eine Sekunde – ließ sich das Gesagte erstmal durch den Kopf gehen. „Und du glaubst dat is ne gute Idee?“
„Ganz und gar nicht“, erwiderte Udo und grinste breit. „Dat is sogar richtig schön dämlich. Aber ich machs trotzdem.“
* * *
Zu Udos Überraschung war das Hack beinahe müheloser zu replizieren als die Nuggets. Nicht nur wegen der Form, welche sich einfach durch den Fleischwolf häckseln ließ, nein. Textur, Farbe, sogar Geschmack – all das war eben recht einfach nachzubauen.
Die Textur lief wie von selbst. Hack erhält seine schließlich durch die im Fleisch enthaltenen Eiweiße, was es sowohl locker als auch bissfest machte – und Erbsenprotein war pures Eiweiß. Ein bisschen Weizengluten half allerdings auch.
Dazu noch ein wenig Flüssigkeit und zack, feddich – pflanzliches Fleisch. Mehr oder minder zumindest.
Sofern er den Teig, wenn man es denn so nennen kann, ordentlich genug durchknetete, verschwand auch schnell dieses bisschen Mehligkeit, welche Erbsenprotein mit sich brachte.
Auch die Farbe lief beinahe wie von selbst; nach einigen Versuchen hatte Udo auf jeden Fall ein ziemlich vielversprechendes Resultat. Einfach ein paar rote Sachen in die weiße Pampe reindrücken und man siehe da: Es ist pink. Tomatenmark, Paprikapulver, rote Beete – Lebensmittelfarbe, wenn es sein musste. Udo erkannte recht schnell, dass wenn es eine Farbe gibt, an welcher es der Natur nun wirklich nicht mangelt, so ist es rot.
Ein Glück, das Fleisch nicht blau ist, sonst müsst da noch ein Alkoholiker mit rein, keckerte Udo vor sich hin – und wenn es noch einen weiteren vegetarischen Metzger-Wortwitz gab, so war es dieser. Hatte Udo mental aber irgendwie immer noch nicht so richtig präsent.
Der Geschmack erwies sich wie erwartet als die größte Hürde und es brauchte ein paar Anläufe mehr, bis er diesen richtig abstimmen konnte. Hier erwiesen sich dann auch die Eisentabletten letztendlich als hilfreich. Ein weiterer Geheimtrick, welcher Udo von ganz alleine einfiel: Etwas geraspeltes Kokosfett, um die kleinen, weißen Pünktchen nachzubilden, welche so hacktypisch sind. Am Ende des Tages handelt es sich bei beiden nur um Fettablagerungen und somit Geschmacksverstärker.
Nichtsdestoweniger: Das Problem war schlicht und ergreifend das, was Udo eben nicht wollte. Es schmeckte irgendwie nach Fleisch, aber eigentlich auch nicht so richtig. Hätte er es verorten müssen, dann in Richtung Lamm, was für sich zwar bereits ein kleiner Erfolg war, aber weiterhin total daneben, wenn man denn auf Rind abzielte. Beides Hornträger und Paarhufer, klar, aber da lagen dann doch einige Evolutionsetappen zwischen den beiden.
Dann überkam es ihm. „Dat schmeckt zu intensiv…“, murmelte er zunächst.
Oh, verstehe, soll ich mir lieber son veganen Fleischersatz kaufen oder wat? Dat haben die bestimmt schon ordentlich gewürzt, damit das überhaupt nach was schmeckt!
Dann, lauter, in Verbindung mit diesem gewissen Funkeln in den Augen, welches er zuletzt beim Burschen sah: „Dat schmeckt zu intensiv! Ja, ja, ja, klar! Hack schmeckt nicht nach viel. Nur ganz leicht – ohne Salz eigentlich nach nix! Schaf aber, dat hat nen ganz speziellen, strengen Geschmack. So einfach is dat – Mensch, Udo, da hättste aber auch wirklich früher draufkommen können, hömma. Und du sollst einer vom Fach sein – ei, ei, ei.“
Und dann hatte er es. Sein vegetarisches (oder veganes, so sicher war er sich da noch nicht) Magnum Opus. Das Monster zu seinem Frankenstein. Näher käme er in diesem Leben nicht mehr dem Gefühl der ersten Astronauten auf dem Mond – da war er sich sicher. Nicht, weil seine Leistung hiermit vergleichbar wäre – papperlapapp. So eitel war Udo nicht und würde es auch nie sein; das stünde ihm gar nicht. Es war weitaus simpler als das:
Mit gerade mal sechs Jahren hat Udo sein erstes Schwein getötet. Nicht weil er wollte, sondern weil er sollte – und ab da war eigentlich schon klar, in welche Richtung sein Leben gehen wird. Alle wussten: Udo wird Metzger – und damit wurde auch das letzte bisschen Ambition, welches einst in diesem Jungen gesteckt haben mochte unweigerlich ausgequetscht.
Keine Ziele, kein Traumberuf, keine To-Do-Liste für die begrenzte Zeit auf diesem Planeten, welche Udo mitgegeben wurde. In vielerlei Hinsicht verhielt Udo sich stets wie ein befehlstreuer Soldat, welcher in der Knechtschaft, die seine Vorgesetzten ihm aufbürdeten, zu blühen begann – und erstmalig widersetzte er sich. Schaffte etwas Besonderes, was ihm von Tag 1 an wohl niemand zugetraut hätte.
Nie würde er die Bedeutsamkeit hiervon unnötig aufplustern wollen – es reichte ihm zu wissen, dass er das hier gemacht hat. Ganz alleine. Und das würde ihn niemand wegnehmen können.
Für Udo war dieser zusammengepresste Erbsenbrei – so wenig er optisch auch hermachen mochte und was auch immer man am Ende des Tages darüber denken würde – das größte Kunstwerk, welches er bis dato erschaffen hatte. Das reichte ihm.
* * *
Heute ging Udo gerne zu Herrmann, denn er hatte ein Ziel im Kopf. Nicht, dass man das bei Freunden machen sollte, klar – wusste er auch. Aber hatte Herrmann sich jemals wirklich aus Freundschaft mit Udo getroffen? Er glaubte nicht. Eigentlich war Udo nur das Ventil für Herrmanns unendliche Tiraden. Sein fleischgewordener Boxsack mit wulstigem Polster bestehend aus Fett, Körperbehaarung und einer Prise gleichgültiger Einfältigkeit. Genau das, was Herrmann sich gesucht hat. Jemand, der einfach mit sich machen ließ. Geschickt spielen tat er das ja immer. Vielleicht empfand Herrmann wirklich eine gewisse Verbundenheit zu seinem besten Freund, das würde Udo gar nicht abstreiten wollen – aber wenn, so war das eine überaus eigennützige. Wahrscheinlich war Udo schlicht und ergreifend der einzige Mensch, welchen Herrmann noch nicht verscheucht hatte und so war besagte Verbundenheit nichts als eine Dreieinigkeit aus Kontaktarmut, Loyalität und Notwendigkeit. Eine sehr pervertierte Variante von platonischer Liebe, fand Udo – und so bereitete es ihm keinerlei Gewissensbisse, dass er an dieser Stelle mit Hintergedanken an Herrmann herantrat.
Er klopfte an.
„Komm rein, komm rein, kannste rausgucken, haha!“ Ein weiteres, dickes Schulterklopfen, bei welchem Udo das Gefühl hatte, Herrmann würde das Frühstück gleich mit aus ihm hinausklatschen.
Der Fliesentisch war gedeckt.
„Na, wie läufts, Udo? Wat gibt’s Neues?“
„Ach, alles beim Alten, weißte doch. Du, Herrmann – ich hatte da nen Einfall.“
Und du glaubst dat is ne gute Idee?
Ganz und gar nicht. Dat is sogar richtig schön dämlich. Aber ich machs trotzdem.
Herrmann staunte für einen Moment spöttisch. „Schön für dich, Udo. Dass ich dat nochma erleben darf.“
Udo ignorierte Herrmanns Aussage. „Du hast doch letztens gesagt, du willst mal wieder gut essen, wa? Mal wieder ein bisschen gutes Fleisch vom Metzger.“
„So um und bei, jo. Dat is richtig.“
„Also: Ich lad dich bei uns zum Essen ein nächstes Wochende. Wat sachste?“
Ein selbstgefälliges Grinsen machte sich über Herrmanns Gesicht breit. „Mensch, Udo – ich wollt ja nix sagen, aber wird aber auch mal Zeit, so wie du dich bei mir jedes Wochenende durchzeckst und -schnorrst, nä? Bin ja ein spendabler Typ, aber irgendwo, da is halt auch ma Schluss!“
„Ja oder nein, Herrmann?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vergeben und vergessen, Kollege Turnschuh. Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul, sach ich ma.“
„Jo.“
„Wat gibts denn Feines, Udo? Tischt dein Fräulein für uns auf? Haha!“
„Nee, ich koch wat für uns.“
„Da staunst nicht schlecht – n Mann inner Küche. Aber wenns richtig gehen soll, macht man selber, nä? Wie mit der Rechten, haha!“
Udo ekelte sich ein wenig davor, sich in der letzten Aussage selbst wiederzuerkennen. Etwas zu gut, zu seinem Leidwesen, aber womöglich war das bisschen Ekel ein guter Schritt in die richtige Richtung. Herrmann wollte ihn natürlich etwas linken – tat er auch, nur nicht so, wie er sich das vorstellte. Manchmal hält auch ein schlechter Witz einen Spiegel vor.
„Gibt auf jeden Fall Hackbraten“, setzte Udo vor. „Dazu etwas Kartoffelstampf.“
Mit einer widerwärtigen Miene bleckte Herrmann hierauf mit den Zähnen und leckte genussvoll über diese, ganz so als würde man einem abgemagerten Straßenköter eine ganze Hammelkeule vor die Pfoten schmeißen. Ein einzelner Speicheltropfen rann von seinem Mundwinkel herab. „Ah, deutsche Hochkultur!“, bemerkte er begeistert. „Mit reichlich Butter, will ich doch hoffen.“
„Schauen wa ma.“
„Jetzt noch geizig werden, wa?“, zischte Herrmann. „Aber gut, wird schon schmecken. Ich will nicht klagen.“
„Möchte ich doch meinen.“
Dieses selbstgefällige Lächeln breitete sich wieder über Herrmanns Visage aus. „Schmackofatz, Udo. Schmackofatz.
„Jedenfalls, haste schon wieder das Neuste von dieser Thunberg gehört? Die hat was mit Plastik im Zug gegessen, Udo! Mit Plastik, haha! Ich sachs wies ist, diese Linksgrünversifften…“
* * *
Franzi und Udo waren sich beide einig, es sei am klügsten, wenn Till an diesem Abend nicht dabei wäre – also übernachtete er bei einem seiner Freunde. Herrmann war weder sonderlich gesellig noch kinderfreundlich und mit einem sehr aufbrausenden Temperament ausgestattet. Wenn der erstmal erfahren würde, was Udo ihm da vorsetzt…na ja, es war einfach klüger, wenn Till woanders bleibt. Für den Fall der Fälle. Muss ja nicht noch ein Kindheitstrauma mehr auf Udos Schippe gehen als nötig.
Den ganzen Tag stand Udo für seinen Hackbraten in der Küche – und er musste sagen, er war mehr als nur zufrieden. Das Rezept stammte noch von Udo sein Vaddern und dem sein Vaddern davor.
Eine stolze Familientradition, welche von Vater zu Sohn weiter und weitergegeben wurde. Ich sachs dir, Udo, Traditionen müssen aufrechterhalten werden. Dat is wichtig, darum sinds doch erst Traditionen!
Das hausgemachte Hack funktionierte wunderbar und stand dem Original in keinem Bereich nach, wie der Metzger feststellte. Es war handfest, einfach zu bearbeiten und Udo war sich sicher: Bei all den Zutaten im Hackbraten, würde Herrmann nicht der leiseste Zweifel beschleichen, es würde sich um richtiges Fleisch handeln.
Er fing an mit in Milch aufgeweichten Semmelbröseln, in welche er eine Zwiebel, eine Karotte, etwas Sellerie
Dat is doch gar kein richtiges Fleisch. Da ess ich lieber ne Stange Sellerie als son Scheiß.
und eine Spreewälder hobelte, gefolgt von etwas Muskatnuss, Knoblauchgranulat, einem stolzen Batzen Bautzner Senf sowie einer ganzen Menge Petersilie. Salz und Pfeffer durften natürlich auch nicht fehlen. Ein kleines Familiengeheimnis: Nur das Eigelb verwenden! Welches Udo kurzerhand in die Pampe knallte, um das Ganze zu einer homogenen Masse zu formen, welche er darauf in eine Gugelhupfform manövrierte, dessen Inhalt er wiederum auf ein Backblech hievte. Es ging nur um die Form; das Ganze war immerhin kein Kuchen, dessen Teig sich erstmal festigen muss.
Nun zur Glasur – dem Geheimrezept der Familie. Worcestershire-Sauce, Salz, brauner Zucker, Tomatenmark und etwas Honig. Gar nicht mal so besonders und wird in unregelmäßigen auf den Braten geschmiert.
Der Kartoffelbrei stand schon fertig, jetzt musste nur noch Herrmann kommen.
Ding Dong.
Franzi machte auf.
„Menschenskinnas, Franzi! Lange nicht gesehen, hömma. Komm her, lass dich drücken.“ Er presste Franzi unangenehm nahe an sich heran; seine wahrscheinlich erste weibliche Berührung in Jahren. „Gut siehste aus! Aber bisschen moppelig geworden, wat? Haha!“
„Ach, du schon wieder“, erwiderte Franzi und wedelte abweisend mit der Hand, obwohl sie doch eigentlich so gerne Du kriegst gleich eine aufs Maul sagen wollte. Hätte Herrmann doch ohnehin nur drüber gelacht. Sie fühlte sich ein bisschen eklig.
Jetzt kam Udo rein.
„Mensch, Udo altes Haus!“, grölte Herrmann und streckte ekstatisch seine Arme aus. Sofern Udo das richtig sah, hatte Herrmann sich für den Abend beinahe richtig schickgemacht. Das feinste Camp David-Hemd rausgekramt und gebügelt, sich frisch rasiert, die Kotletten gestutzt, seine am wenigsten ausgewaschene Jeans angezogen und sogar seine abgebrauchten Lederschuhe, die er mindestens schon seit den Neunzigern hatte, poliert. Er roch unerträglich nach Aftershave, welches mit Sicherheit For Men auf der Flasche stehen hatte.
„Moin Herrmann“, sagte Udo. „Komm rinn.“
„Ja gerne, gerne. Sach ma, wat muss ein Schlucker wie ich denn tun, um hier ein kühles Blondes zu bekommen?“ Er warf einen leicht anzüglichen Blick zu Franzi rüber, welcher lediglich scherzhaften wirken sollte, um den Tatsachengehalt der Aussage zu kaschieren. „Oder eine coole Blonde, die würde ich auch nehmen, nä? Haha!“
Noch son Spruch und ich kotzt dir ins Gesicht, dachte Franzi.
„Sind welche im Kühlschrank. Bedien dich.“
Herrmann rollte mit den Augen. „Muss man sich auch noch selber bedienen hier, watn Service, ey.“
Udo ignorierte das gekonnt. „Hoffe du hast ein gutes bisschen Hunger mitgebracht, gibt nämlich gleich Essen.“
„Hab ich ja Timing, wat? Schmackofatz.“
Noch während er im Begriff war aufzutischen, schaffte Herrmann es beim besten Willen nicht nur eine Sekunde seine Klappe zu halten.
Ich laufe. Ich bin ein Dieselmotor, der halbgare Meinungen produziert. Klick! Die alte Pumpe läuft noch, immer und immer besser. Klick, klick, klick!
Dabei hatte Udo den Schalter diesmal gar nicht betätigt. Herrmann redete einfach nur. Er redete und redete und hörte nicht auf, bis jemanden die Ohren bluteten. Auch dann würde er wahrscheinlich noch weitermachen.
„Ich sachs euch, diese Merkel müssen wa abschaffen, bevor sie uns abschafft. Guckt euch nur ma Deutschland an! Ein Kasperletheater sind wa mittlerweile, mehr nicht. Wisst ihr wen ich gut find? Diesen Trump, der zeigt den Leuten noch, wie der Hase läuft.“
„Und diese politische Korrektheit schon wieder – zum Haareraufen is dat! Wat is eigentlich aus der Meinungsfreiheit geworden, hm? Dat is ein Grundrecht. Ich sach wat ich will und denke, da lass ich mir nix verbieten.“
„Da seh ich letztens ne Stellenanzeige in der Zeitung, nä? Und dann steht da m/w/d – und ich denk mir, Mensch, wat soll dat denn schon wieder sein? D wie dämlich oder wat? Haha!“
„Essen ist fertig“, sagte Udo und reichte Herrmann seinen Teller. Der erste Moment der Entscheidung von vielen, sofern er das beurteilen konnte.
Herrmann musterte den Teller. „Mensch Udo“, begann er. „Dat sieht ja richtig gut aus, hömma, wusst gar nicht, dass du sone Hausfrau bist, haha!“ Er beugte sich anzüglich in Udos Richtung. „Aber mir nicht gleich den Gürtel lockern, Kollege – bist nicht mein Typ.“ Ein Zwinkern. Jetzt wollte auch Udo ihm ins Gesicht reihern.
„Danke fürs Kochen, Spatz“, sagte Franzi schließlich, in der Hoffnung das Thema wechseln zu können.
„Joa, dann ma guten Hunger“ – und so eröffnete das Abendessen.
Herrmann schlang förmlich. Riesige Konglomerate aus Hackbraten und Kartoffelstampf stopfte er in seine viel zu große Futterluke rein und schmatzte und kaute und hielt einfach nicht seine verdammte Klappe, wodurch Fetzen seines Essens durch den ganzen Raum splitterten, so als würde er Stich für Stich einen Kadaver ausweiden und demolieren, weiter und weiter, bis die Tapete aussah wie ein Jackson Pollock-Gemälde.
„Die klauen uns unsere Jobs, wisst ihr dat eigentlich? Keiner auf meiner Baustelle spricht noch Deutsch! Alles Tschechen und Polen und überhaupt. Ne widerliche Sippschaft ist das, ich sachs euch! Und faul sind de – Mensch, wärn wir Deutschen so…“
„Ganz adäquater Hackbraten is dat, Udo. Ganz adäquat. Oh, Entschuldigung – Hackbratinnen mein ich. Gendern, Udo, gendern – haha! Dass die son Scheiß ernst meinen, ich kanns nicht glauben, ey.“
„Habt ihr gehört? Von Impfungen kriegt man Autismus. Nee, also die Scheiße spritze ich mir nicht mehr. Wer weiß was da alles drin is? Dat mach ich nicht mit. Der Hackbraten, Udo – Mensch is dat lecker!“
„Meine Fresse, bin ich da letztens im Bus und dann sitzt da eine, die war so fett – ich sachs euch. Nichts außer andere Leute behindern tut die, ne Schande is sowat. Die ist nicht nur für zwei am Essen, bin mir fast sicher, die hat auch zwei gegessen, haha!“
Herrmanns Teller war leer. Dreimal hat er nachgeschlagen und jetzt war er voll. Sein Bierbauch blähte sich auf wie ein Ballon. Die letzten Essensfetzen leckte er sich genussvoll von den Fingern.
„Ich sach ja, Udo: Schmackofatz. Sehr lecker, wirklich.“
„Dankeschön, freut mich.“ Und das tat es wirklich. Der zweite Moment der Entscheidung war der erste Biss – und diesen bestand er mit fliegenden Fahnen. Der dritte das auf der Zunge zergehen lassen – erneut, bestanden. Und sofern es Bonuspunkte zu holen gab, so hatte Udo auch diese in Form einer zweiten und dritten Portion erhalten. Soweit er das beurteilen konnte, hatte er am heutigen Abend seine Glanzleistung, eine 1+ zum Besten gegeben. Herrmann überkam nicht der leiseste Verdacht. Udo hatte gewonnen.
„Stimmt auch wat du sachst, hömma“, setzte Herrmann fort. „Man schmeckt dat einfach, wenn man ein gutes Tier isst. Da ist einfach ein Unterschied zu diesem Scheiß ausm Supermarkt – ne Schande is dat. So soll das schmecken, Udo! So muss dat, haste vollkommen recht.“ Er pulte mit seinem Fingern Überreste zwischen seinen Zähnen hervor und ließ diese darauf zurück in seinen Mund ploppen.
„Da fällt mir ein, Udo.“
„Jo?“
„Wat fürn Tier war dat denn? Und welcher Teil? Schwein und Rind, richtig? Schulter, würde ich schätzen. Ja, da staunste, wa? Der alte Herrmann kennt sich auch aus, haha!“
Udo schüttelte den Kopf. „Nee, wat ganz anderes.“
Herrmann grübelte für eine Sekunde. „Etwas Lamm vielleicht? Hab da nen leicht komischen Nachgeschmack gespürt – dat muss doch Lamm sein, nä?“
Ein weiteres Kopfschütteln. „Auch nicht.“
Herrmann gab sich geschlagen. „Na, dann lös mal auf, Kollege.“
„Erbsen und Weizen.“
Herrmann erstarrte für eine Sekunde. „Bitte?“
„Erbsen“, wiederholte Udo langsam, „und Weizen.“
Und für einen Moment sagte Herrmann gar nichts. So hatte Udo ihn noch nie gesehen. All seine geistigen Zahnräder schienen grad auf Hochtouren zu rattern.
Boah, Udo, ich hab da letztens ne Erbsensuppe im Super-markt entdeckt, nä? Vom feinsten, ich sachs dir! Direkt aus der Konserve, rinn in Pott, dazu ein Stück Weizenbrot. Hammmmmer!
Dann verstand er.
Herrmann hasste Widerstand, vor allem von Udo.
Seine gesamte Miene verdüsterte sich. Er stand auf. „Du kleines Stück Scheiße“, sagte er. „Wat fällt dir eigentlich ein–“, doch sprach Herrmann seinen Satz nicht zu Ende. Er sprang los, stürzte sich auf Udo und kippte diesen samt Stuhl auf den Boden, woraufhin das Möbelstück unter dem Gewicht der beiden zusammenbrach.
„BIST JETZT EINER VON DENEN, HÄ?!“, brüllte Herrmann, während er Udo am Kragen packte und diesen kräftig rüttelte. Udo blieb unbeeindruckt. „Passt ja wie die Faust aufs Auge! Da sind nur sone Kleingeister wie du. ALLES IDIOTEN! Hättest einfach nur auf den guten Herrmann hören müssen, Udo! Dat ist ein anständiger Kerl, dieser Herrmann, dat sagen ALLE. Aber nee, wozu denn, wat? Weißt ja bestimmt alles besser, du Erbsenhirn, hm? Hast dich bestimmt immer über den guten alten Herrmann“
ein anständiger Kerl, dieser Herrmann, dat sagen ALLE
„hinter seinem Rücken lustig gemacht, wat? Und jetzt sowat– dat hätt ich dir nicht zugetraut, Udo. Wirklich nicht.“ Er ließ los und richtete sich wieder auf. Udo genauso. „Aber Hauptsache sich jedes Wochenende bei Herrmann dem Samariter durchzecken, hä? Wie son scheiß Linker, hab ich doch gleich gesacht. Ich habs gesacht!“ Er stampfte wutentbrannt auf.
„Herrmann, jetzt beruhig dich doch mal“, warf Franzi ein, in der Hoffnung, die Situation zu schlichten.
Er drehte sich rasant in ihre Richtung – und seine Miene verzog sich erneut. Jetzt verstehe ich, dachte sich Herrmann. „Oh, von dir hat er dat alles, nicht wahr?“ Er trat näher an Franzi heran. Unangenehm nahe. „Ja klar, ihr Tussen seid so. Denkt ihr versteht die ganze Welt weil ihr ja so einfühlsam seid, nä? Nix versteht ihr! Gar nix. Ihr verschissenen Suffragetten seid doch nichts außer einen Haufen hysterischer F–“ Herrmann war im Begriff seine Hand zu heben, in vollkommener Bereitschafft Franzi eine zu ziehen.
Udo hatte niemals Hand an Franzi angelegt – das wäre ihm auch gar nicht in den Sinn gekommen. Zum Glück verstand sie auch so und zimmerte ihre Faust in einem kräftigen Hieb über Herrmanns Nase drüber. Eine gewisse Genugtuung überfiel sie.
Herrmann schrie auf. Blut schoss aus seiner Nase. „DIE HURE HAT MIR DAS NASENBEIN GEBROCHEN!“, jammerte er und bevor noch ein Wort aus Herrmanns Mund herausfallen konnte, packte Udo, welcher etwa doppelt so breit und stark wie Herrmann war, diesen am Nacken, zog ihn zur Eingangstür und beförderte ihn mit einem gezielten Tritt in den Flur des Mehrfamilienhauses, auf welchem er sogleich das Gleichgewicht verlor und kollabierte. Udo schepperte die Tür zu und das war das.
Ein letzter Blick durch den Spion. Herrmann rappelte sich auf, spuckte etwas Blut und verabschiedete sich mit einem letzten: „DU KANNST MICH MAL, UDO! HÖRSTE? DU KANNST MICH MAL, DU DÄMLICHES STÜCK SCHEIßE!“ Dann war er fort.
Franzi schnappte erst einmal auf und atmete nach Luft. Sie beruhigte sich ein wenig. „Das war ja noch schlimmer als erwartet…“, meinte sie.
„Hm“, grunzte Udo.
„Was hast du dir hiervon eigentlich erhofft?“, fragte sie aufrichtig irritiert.
„Etwas Genugtuung“, meinte ihr Ehemann.
„Und?“
Er zuckte mit den Schultern. „War mir ne Lektion.“ Er trottete bedrückt in die Küche zurück. „Ich mach mal den Abwasch.“
Udo und Herrmann hörten nie wieder voneinander.
* * *
Es ist schwer zu sagen, was hiernach aus Herrmann geworden ist. Tut aber eigentlich auch nicht zur Sache. Man weiß, was man wissen muss.
Wahrscheinlich ist er eines Tages einsam auf seinem Sterbebett versauert und wird sich noch ein letztes Mal gesagt haben, dass die anderen das Problem sind. Ein bisschen stimmt das auch, aber ein weiteres Mal nicht so, wie Herrmann sich das zurechtbog.
Udo, Till und Franzi hingegen – das lässt sich etwas klarer verfolgen. Würde letztere ihrem Leben eine Schulnote aufdrücken müssen, so wäre es mittlerweile wahrscheinlich eine glatte 2, gut. Und das ist doch schon mal etwas.
* * *
„Tut mir leid, dass ich jetzt erst wiederkomme“, sagte der Bursche. „Viel zu tun leider.“ Es dauerte eine Weile, bis er die Änderungen registrierte, doch ein etwas aufmerksamerer Blick machte sie kurzerhand offensichtlich.
Er nickte beeindruckt. „Lässt sich von euch wohl auch sagen, was?“
Die Fleischtheke Udos war mittlerweile in zwei Areale unterteilt – Fleisch und Vegetarisches/Veganes. Auch ein Kühlschrank mit Vegetarischem für den kleinen Hunger (Nuggets, kleine Salamisticks etc.) wurde mittlerweile aufgestellt.
An den Fenstern waren mehrere Flyer befestigt, welche die neuesten Produkte des Metzgers bewarben – und wie der Bursche sah, hatte dieser sein Sortiment fleißig erweitert. Verschiedene Hacktypen, veganer Schweinebauch, Koteletts für Schnitzel, verschiedenste Wursttypen und überhaupt. Der Bursche war mehr als nur beeindruckt. „Und das ist auf meinen Mist gewachsen, was?“ Ein Späßchen unter Freunden.
Udo zuckte verlegen mit den Schultern. „Kann man so sagen. Aber dat war nicht nur ich, hömma. Hab mir da von ein paar Leuten helfen lassen.“
Der Bursche entdeckte einen Jungen an der Theke, welcher die Produkte sortierte. „Dein Sohn?“, fragte er und deutete mit dem Finger auf ihn.
„Jawollo. Dat is Till.“
„Hallo“, sagte dieser leicht verlegen.
„Der Till hat ein Händchen für sowat, ich sachs dir! Hat mir geholfen bei vielen unserer Produkte. Bin stolz wie Bolle, aus dem Burschen wird mal wat, haha!
„Und die Franzi, meine Frau, die hilft mir hier auch, hömma! Rechnen kann die und Logistik und überhaupt, dat war mir immer zu kompliziert, sach ich dir. Wie am Schnürchen läuft dat alles.“
Ein Grinsen machte sich im Gesicht des Burschens zu bemerken. „Und, was kommt als nächstes? Rein in den Supermarkt, nehme ich mal an?“
Udo verzog leicht spielerisch das Gesicht. „I wo! Da geht ja die ganze Qualität verloren. So groß denk ich nicht – wir sind hier schon ganz gut versorgt, sach ich ma. Kommen schon so kaum hinterher.“
„Kann ich mir vorstellen. Altona halt, was?“
Udo nickte. „Wat darfs denn sein?“
Der Bursche guckte sich die Theke an – und während er kaum aus dem Staunen rauskam, dachte er sich ein letztes Mal: Der Mann ist ein Genie.
Was der Bursche nicht sah, und es lässt sich nur hoffen, dass sich das bei seinem nächsten Abstecher in Udos Metzgerei ändern würde, war der eingerahmte Artikel vom Hamburger Abendblatt, welchen Udo stolz im Laden aufgehangen hatte. Dabei hätte er sich nur einmal nach links drehen müssen. Zu sehen war ein Bild von Udo samt Franzi und Till, wie diese vorm Laden, welchen Udo sein Vaddern davor betrieb und dem sein Vaddern davor auch, posierten. Sie alle lächelten.
HAMBURGS VEGETARISCHER METZGER
Dass immer mehr alte Läden im Herzen Altonas weichen müssen, für die neuen Alternativen, welche sich intensiver am Zahn der Zeit festzubeißen scheinen, entwickelt sich für viele HamburgerInnen leider zu einer unausgesprochenen Gewohnheit. Umso ungewöhnlicher ist es, wenn einer vom alten Schlag diesen ausnahmsweise gehörig Konkurrenz macht – und doch geschieht es.
Seit 1939 gibt es die Metzgerei Udo mittlerweile (zunächst als Metzgerei Helmut bekannt) und dass ausgerechnet ein Laden für Fleisch und dergleichen zum Höhepunkt der Klimabewegung mehr und mehr aufmerksam erringt, damit die BewohnerInnen Altonas dessen Delikatessen erwerben können, ist eine weitere Kuriosität für sich. Wie so häufig liegt das Geheimnis in der Anpassungsfähigkeit, denn das offene Ladengeheimnis des Besitzers Udo lautet, dass er der wohl erste vegetarische Metzger Hamburgs ist.
„Eines Tages kam da so ein Knabe in meinen Laden und schlug vor, ich solle doch mal gucken, ob ich vielleicht einen Fleischersatz entwickeln kann. Das nötige Wissen hätte ich ja“, erzählt der Metzger und so begann eine ganz unerwartete Wende für den Laden, welcher bis vor Kurzem sein eigenes Ablaufdatum wohl noch wittern konnte.
„Fast jeden Tag sind wir ausverkauft. Es ist unglaublich! Das geht weg wie warme Semmeln alles. Ich glaub in ein paar Jahren kann ich das Fleisch ganz streichen“, bemerkt der Ladenbesitzer scherzhaft – und doch scheint das gar nicht mal so unwahrscheinlich.
Seit drei Generationen befindet sich die Metzgerei nun im Familienbesitz und versprach zuvor stets Fleischwaren aus bester Haltung.
„Daran ändert sich auch nichts. Qualität ist mir überaus wichtig und ich glaube, das merken meine KundInnen auch. Für mich zählt irgendwie meinen Teil zu leisten. Wir lassen das Fleisch mittlerweile oftmals auch vom Tisch und greifen zur Erbse, wie ich so schön sage.“
Und was würden die Vorbesitzer zum Werdegang der Metzgerei sagen?
„Mein Papa und Opa, die würden sich im Grab drehen“, erzählt der Metzger lachend. „Ach, so schlimm ist es dann wahrscheinlich auch nicht. Ich denke am Ende des Tages sind sie einfach froh, dass es ihr Lebenswerk noch gibt und sich über mehr Aufmerksamkeit als je zuvor erfreuen darf.“
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