Es war 18 Uhr und Henry machte gerade Feierabend. Er verließ seinen Arbeitsplatz, zündete sich beim Büroausgang eine Zigarette an und nahm die zwei Minuten Fußweg zum nächstgelegenen Bahnhof auf sich, wie jeden anderen Tag auch. Er wartete vorm Bahnhofseingang, um in Ruhe aufzurauchen – die gewohnte Routine. Seine tägliche Hibernation, wie Henry zu sagen pflegte. Die Treppe hinunter saß bereits ein Obdachloser, welcher seinen Pappbecher schüttelte, um nach Spenden zu betteln, wobei ein Katsching-artiges Geräusch entstand. Henry kannte den Mann bereits. Oskar Mühlhoff, wenn er sich nicht irrte. Komischer Typ; Paradebeispiel eines Niemands, der nichts wirklich aus sich machen wollte, sofern Henry das beurteilen konnte. Immerhin eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Mit seinem weißen Hemd samt schwarzer Krawatte, der ebenso schwarzen Anzugshose und dem beigen Trenchcoat, optisch abgerundet durch den dunklen Filzhut, fühlte Henry sich wie einer dieser Gumshoe-Detectives, welche er aus den Streifen seiner Kindheit kannte. Diese verwegenen Einzelgänger, wie sie immer im Film Noire dargestellt wurden. Alleine im Büro, bis der eine Anruf folgt, der den einen Fall mit sich bringt, welcher alles ändert. „Hallo?“
„Spreche ich mit Henry DeVille?“ Eine Frau am Apparat. Die Femme Fatale der Handlung, eindeutig. Wie sie aussieht, kann Henry nicht sagen, doch weiß er, dass sie wunderschön ist. Es liegt in ihrer dunklen, düster mysteriösen Stimme. Er weiß, dass sie es sein wird, welche ihn letzten Endes zu Fall bringt; ihn über den Tisch zieht – und für eine Nacht mit ihr, könnte sich das doch tatsächlich lohnen, wenn seine Hände über ihren grazilen Körper gleiten, sie sich vereinen, lieben, wild und ungestüm, außerhalb jeglicher Kontrolle, bis er am nächsten Morgen alleine im Hotelzimmer wieder zu Bewusstsein findet und feststellen muss, dass das Leben, wie er es zuvor kannte, nun in Schutt und Asche, im Ruin, liegt. Der Fall wäre natürlich höchst verworren; ein zunächst einfacher Auftrag, dem Anschein nach, welcher sich Stück für Stück in einer ihm zuvor ungeahnten Komplexität entfalten wird. Und wenn Henrys Grips ihm nicht mehr weiterzuhelfen weiß, haben seine Fäuste sicherlich die richtige Antwort parat. Ein echter Kerl halt. Doch war Henry eigentlich Steuerberater und wenn eine Frau ihn anrief, dann nur, um ihn Zahlen vorzulegen. Wenn nicht, dann war sie ohnehin nicht ledig und wenn doch, dann weil sie Witwe war. So alt und verkommen, wie er sich bereits fühlte. Vom Sein absorbiert. Kurzum: Henrys Leben, wie er es damals kannte, war nicht spannend. Wäre es womöglich gewesen, hätte er tatsächlich so ein miserables Wortspiel wie „DeVille“ zum Nachnamen gehabt, nicht etwa das schrecklich ordinäre „Smith“; sein eigentlicher Name. Dann hätte er eventuell tatsächlich eine Karriere als Privatdetektiv angestrebt, denn wer „DeVille“ heißt, ist entweder ein wortwörtlicher Teufelskerl oder Bösewicht in Disneyfilmen. Aber wozu unnötige Spekulationen aufstellen? Henry war nicht so. Er wäre wohl nie so gewesen, soweit er das beurteilen konnte. Derartige Vorstellung waren nichts als ein Wunschtraum; das schemenhafte Abbild seines aktualen Lebens. Henry war nur ein Bürohengst – mehr nicht. Auf seiner linken Schulter saß der Kapitalismus, auf der rechten die Bürokratie – und beide waren bloß still, während Henry mit Zigarette am Bahnhof wartete. Die Pause vom Alltag, in der Gedanken nur die seinen waren, ohne jegliche Einflüsse der Außenwelt. Die Zigarette war bis zum Filter heruntergebrannt; er hatte aufgeraucht.
Scheiße.
* * *
Der Bahnfahrt anschließend schlenderte Henry zum Mehrfamilienhaus, in dem er seit Jahren wohnte, obwohl er sich etwas Besseres hätte leisten können, wenn er nur gewollt hätte. Steuerberater machen gutes Geld – wohin damit, konnte er sich allerdings auch nicht beantworten. Ihn hätte ein Auto überfahren können und es gäbe niemanden, dem Henry seine Ersparnisse hinterlassen könnte. Geld wurde dementsprechend mit der Zeit egal, der Job war nur noch eine Sache der Gewohnheit. Das Haus, in dem er wohnte, umfasste insgesamt 34 Mieter, ihm selbst ausgeschlossen, und bei niemanden wurde jemals eingebrochen, seitdem er hier wohnte. Diese Tatsache hielt Henry jedoch nicht davon ab, an seiner Haustür insgesamt vier verschiedene Sicherheitsschlösser zu installieren. Für den Fall der Fälle. Was noch nicht war, kann ja noch werden. Zuerst versuchte er das obere Schloss zu öffnen – wie jeden anderen Tag auch.
Mensch, wo ist er denn, der Schlüssel? Ach, hier. So. Ah, Moment, noch nicht ganz drin – zack, jetzt. Zweimal nach links drehen, so, da ham was. Top. Södele, weiter zum zweiten Schloss. Wo isser denn? Habs gleich, Moment. Ah, hier.
Henry griff nach dem Schlüssel fürs zweite Schloss, worauf dieser ihm durch beide Finger glitt, gefolgt von einem deprimierten Scheppern auf den kahlen Flurboden des mondänen Mehrfamilienhauses, in dem er seit so vielen Jahren bereits lebte. Zeitgleich zum Aufprall, zerbrach etwas in Henry. Etwas, das schon immer da war, außerhalb seines eigenen Bewusstseins – und dieses Etwas hielt ihn zusammen. Er blickte auf den Schlüssel am Boden, schaute hinauf zu seinen vier Schlössern hinter der mageren Holztür, welche jedermann und -frau trotz ach so guter Sicherung mit einem gepflegten Stoß hätte zerstören können, und er konnte dabei nur einen einzigen Gedanken fassen. „Verdammte Scheiße“, sagte er sich.
„Gibt es ein Problem, Henry?“, fragte die rechte Schulter.
„Ich hasse mein Leben.“
Wie jeden anderen Tag auch.
* * *
Sein Vater war ein überaus pragmatischer Mann. Bereits in Henrys jungen Jahren pflegte dieser zu ihm zu sagen: „Wenn dir etwas an deinem Leben nicht passt, dann ändere es“ – und genau das hatte Henry nun vor. Sein Leben sollte verwegener werden, abenteuerlicher – irgendwie spannend. Der erste Schritt hierfür war ihm klar: Homeoffice, denn Spannungskurven beginnen langsam. Seit Jahren flanierte er, wie jeden anderen Tag auch, in sein Büro, setzte sich für zehn Stunden an seinen Schreibtisch, um dann abschließend nach Hause zu fahren und sich Tiefkühlfraß im Ofen zu erhitzen, da ihm prinzipiell die Energie fehlte, um etwas Anständiges zu kochen – er hatte schon kaum Zeit zum Einkaufen, da wollte er nicht zusätzlich kochen. Beim Essen las er gerne mal ein Buch oder schaute einen Action-Film, aufregender als das wurden seine Tage jedoch auch nicht. Für Henry war das Spannende am Homeoffice jedoch Folgendes: Sein Laptop war nicht mit den nötigen Programmen ausgestattet. Wie wagemutig. Man sendete ihm Dokumente per Mail, leitete Anrufe weiter und bearbeiten konnte Henry davon de facto nichts, wodurch er hoffte, das Gefühl von Verwegenheit zu erreichen – die gewünschte Spannung blieb allerdings dennoch aus. Er versuchte, die Dinge interessanter zu gestalten und holte seinen Aschenbecher vom Balkon zum Schreibtisch. Der Nervenkitzel, als er erstmalig im Wohnzimmer rauchte, unterhalb des Rauchmelders, verging jedoch rasant, als ihm klar wurde, der Rauchmelder würde keinen Ton von sich geben, selbst als er direkt hinein pustete. „Vielleicht sollte ich mal meinen Vermieter anrufen“, dachte Henry sich. „Am Ende brennt mir noch etwas an und in dem Fall könnte doch“- nein, sofort aufhören. Diese viel zu brave Denkweise ist doch dafür verantwortlich, dass sein Leben in diesem Kreislauf der Monotonie festhängt. Pflichtbewusste Menschen haben keine Zeit für Spannung. Rauchen im Wohnzimmer war also ein guter Schritt, definitiv etwas waghalsiger als zuvor, aber irgendwas fehlte noch, dachte er sich. Natürlich! Wie konnte er das denn nur vergessen? Er hatte doch genug solcher Filme gesehen, um zu wissen, was fehlte: Alkohol. Die Antwort auf alles außer Alkoholismus. Er nahm sich eine Flasche Scotch, schüttete diesen in einen seiner Whiskey Tumbler und garnierte das Getränk mit drei Eiswürfeln. Whiskey während der Arbeitszeit! Verrückt, ein kleines bisschen aufregend – so viel stellte er fest, aber nicht aufregend genug, als dass Henry sich nicht wie der klischeebehaftete Steuerberater fühlte, der er nun mal war. Das Problem war offensichtlich relativ simpler Natur: Henry konnte noch so sehr versuchen, sich als Privatdetektiv zu geben, doch war er letztendlich keiner, sondern lediglich das klägliche Abbild des düsteren Helden, welcher er sich erhoffte zu sein. Zwar gaben Filme ihm eine vage Vorstellung von der Profession, welche er just anstrebte, doch endete es auch hierbei. „Aber selbstverständlich!“, merkte er auf. „Kein Autor weiß, was ein gutes Buch macht, bevor er ein derartiges gelesen hat – und ich werde kein Detektiv, bevor ich an einem Fall teilhabe.“
Eine fragwürdige Logik, doch Henry wurde klar, dass er den Punkt finden musste, an dem theoretisches und praktisches Verständnis sich überschneiden und um dem nachzukommen, bräuchte er zunächst einen Fall. Vielleicht keinen aufregend komplexen, wie er anfangs anstrebte, sondern etwas Einfaches, dem er gewachsen war. Etwas, das keiner großartiger Deduktion bedarf, denn die Fähigkeit dazu lag zurzeit schlichtweg nicht vor. Zahlen waren zwar sein Metier, sodass das Erschließen logischer Zusammenhänge im Bereich seiner Kapazitäten lag, doch müsste er dies zunächst praktisch austesten – von richtigen deduktiven Fähigkeiten ließe sich bisweilen also nicht sprechen. Wichtig sei erst einmal, einen Einstieg zu finden, welcher ihm die Brücke zwischen Steuerberater und Privatdetektiv statuieren könnte. Henry öffnete seinen Laptop und suchte nach der nächstgelegenen Detektei. 2 Minuten von ihm entfernt, gar nicht weit. Sogar mitten in der Straße, welche er täglich auf seinem Arbeitsweg passierte – Chester Pinkerton, Privatdetektiv. Hat er noch nie gesehen. „Schmeichelhaft. Nur Augen für mich, wie ich sehe“, flüsterte die rechte Schulter. „Sei still, mit dir rede ich nicht mehr.“
„Naiv wie eh und je.“
Henry kippte seinen Scotch herunter – den Mut antrinken, denn Gespräche außerhalb des Telefons zählten nicht unbedingt zu seinem Forte -, zog Trenchcoat und Hut über und machte sich auf dem Weg, um ein Gespräch mit diesem Herrn Pinkerton zu führen, denn bei einem derartigen Namen, war ihm klar, es müsse sich um einen Profi handeln. Die zwei Sterne Rezension bei Google missachtete er, denn bestimmt läge diese nur an der schroffen Gumshoe-Handhabe, mit welcher viele nicht umzugehen wussten. Eine andere Erklärung konnte es für Henry gar nicht geben.
* * *
Bei der Pinkerton Detektei angekommen, musste Henry feststellen, dass er sein Bild des Privatdetektivs als dunkler Ritter, der rechtschaffend im Schatten operiert, womöglich überarbeiten sollte. Im Schatten operierte Pinkerton sicherlich, doch nur, weil seine Stromrechnung schon seit längerer Zeit nicht mehr beglichen wurde. Das Wetter draußen war düster, wodurch nicht viel Licht ins Büro Pinkertons kam, was womöglich zum Besseren galt, denn ein schöner Anblick war Pinkerton nicht. Keineswegs gut gebaut und stilbewusst gekleidet, sondern mit einem unübersehbaren Bierbauch gesegnet, der den Strickpullover mit Reißverschluss auf sein Äußerstes streckte. Der Rauch von Zigarillos war im Raum verbreitet, doch erkannte man die Tabakware auch an den Gelbspuren in Pinkertons filzigen, ungepflegten Bart. Der Boden war von leeren Whiskeyflaschen übersät, deren Resttropfen im Raum ein leicht benebelndes Aroma verströmten. Eine volle Flasche hingegen stand auf dem Schreibtisch Pinkertons, oberhalb eines Stapels von Playboy-Magazinen. Henry stellte fest, dass einige dieser zwischen den Seiten leicht klebrig schienen und der Scotch, welchen er vorhin trank, empfand daraufhin das Bedürfnis, sich wieder in die Außenwelt zu wagen, doch hielt Henry ihn zurück. Der dickliche Mann setzte sich an seinen Schreibtisch, somit gegenüber von Henry, und zündete einen Zigarillo an, woraufhin ein Keuchen seinerseits folgte. „So, was meinste nochmal, wie du heißt, Bürschchen?“ Pinkerton hielt akuten Augenkontakt mit Henry, was ihn leicht unter Druck setzte, doch versuchte er ruhig zu bleiben.
„DeVille. Ich heiße Henry DeVille“. Sein Gegenüber zückte eine Augenbraue. „Henry DeVille, ja?“ Der Steuerberater nickte zuversichtlich, woraufhin Pinkerton gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Glaub ich dir nicht, aber is auch egal, ehrlich gesagt. Gibt viele Leute hier, die lieber anonym bleiben wollen. Liegt in der Natur des Jobs, aber gut. Wo drückt denn der Schuh, DeVille?“
„Wissen Sie, Herr Pinkerton, ich würde gerne dasselbe wie Sie tun“, erwiderte Henry, woraufhin ein trockenes „Danke, aber ich trinke lieber alleine“ als Antwort folgte. „Nein“, begann Henry. „Das meine ich nicht. Ich will Privatdetektiv werden.“
„Ach, deshalb der dumme Name, ja?“ Ein weiteres Nicken folgte, diesmal allerdings eher verlegener Natur. „Alles klar, verstehe. Dann verpiss dich – ich suche Fälle, keine Azubis.“
„Ich bitte Sie, ich verlange nicht mal Bezahlung! Ich brauche nur einen Einstieg, einen Fall, an dem ich zunächst einmal arbeiten kann, etwas Erfahrung, damit ich-“
„Bürschchen, lass die Scheiße. Du hast zu viele Filme geguckt, weißt du das? Allein dein Aufzug, meine Fresse, das ist ja lächerlich. Weißt du eigentlich, was wir Privatdetektive so treiben?“ Henry sagte nichts. Ihm war klar, dass Pinkerton auch keine Antwort wollte, er würde alleine weiterreden. „Wir lösen keine supergeilen Fälle oder so eine Scheiße. Meist kommen nur irgendwelche verzweifelten Ehefrauen hier an, die denken, dass ihr Macker sie betrügt – und meistens haben sie recht damit. Alles, was du für diesen Job brauchst, ist ne Kamera, ein Objektiv und Arme und Beine, sowohl zum Klettern als auch wegrennen, wenn der Bastard dich dann erwischt. Es ist ein Scheißjob, Bürschchen. Die einzig guten Seiten sind, dass du vielleicht mal ein paar schöne Titten geblitzt bekommst, aber damit hat sichs dann auch. Ich nehme hier niemanden unter meine Fittiche, geht mir nur auf die Nerven. Ich will keinen Azubi, keine Hilfe und erst recht kein Kleinkind wie dich, das denkt, jeder Privatdetektiv sei fucking Philip Marlowe. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst, bevor ich dir meinen Zigarillo im Nasenloch ausdrücke.“
„Ich frage doch nur nach einer Möglichkeit, um-“
„RAUS, HABE ICH GESAGT!“, schrie er Henry an. Dieser stand rasch von seinem Stuhl auf, verließ eilig das Büro und genau in dem Moment, als er die Tür schloss, spürte er ein derbes Scheppern. Pinkerton hatte eine der leeren Whiskeyflaschen nach ihm geworfen und Henry war gerade schnell genug, als dass nichts passiert war. „Dummer Wichser!“, brüllte Pinkerton ihm noch nach. Henry verweilte eine Weile im Flur, um den Schock, welcher ihm gerade zuteilwurde, zu verarbeiten. Er begann zu hören, wie der Mann, welcher hinter der Tür mit der Aufschrift Chester Pinkerton, Privatdetektiv saß, anfing zu schluchzen und erst später realisierte er, dass Pinkerton einst wohl denselben Traum teilte, wie er auch, doch war dieser bereits in der Realität angekommen. „Können wir das nochmal machen?“, fragte die linke Schulter. „Ich liebe es zu sehen, wenn arme Schlucker wie der da die Kontrolle verlieren.“
„Sei still, sei gottverdammt nochmal still.“
* * *
Dem Schock folgte Frustration und Henry beschloss einen Abstecher im Partyviertel der Stadt zu machen, um sich dort ein paar Drinks zu genehmigen. Vielleicht könne er sich mal wieder normal mit jemanden unterhalten, eine Frau kennenlernen oder irgendetwas in dieser Richtung. Wann führte er zuletzt ein normales Gespräch? Das mit Pinkerton ließ sich definitiv nicht in diese Rubrik kategorisieren. Zu lange her, als dass er sich entsinnen konnte. Sein Handy vibrierte. Eine Nachricht seines Arbeitskollegen, Matthew, ebenfalls Steuerberater.
[18:23] Wenn du mal einen Tag frei brauchst, nimm dir halt einen Tag frei, aber was soll denn so eine Scheiße, Henry? Wir haben ein klares Curriculum, das du heute effektiv behindert hast. Homeoffice ist künftig für dich gestrichen. Wir erwarten dich morgen im Büro – wie jeden anderen Tag auch. Ich hoffe, sowas kommt nicht nochmal vor, wir wollen keine Konsequenzen ziehen müssen und tun das jetzt als einfachen Ausrutscher ab, alles klar? Reiß dich zusammen.
„Matthew weiß, wie der Hase läuft, Henry“, reagierte die bürokratische Schulter. „Den Tag heute zahlen sie dir sicher nicht aus“, ergänzte die kapitalistische. „Ich will nichts von euch hören, alles klar? Einfach mal die Klappe halten“. Er blockierte die Nummer von Matthew und schob das Handy wieder in seine Hosentasche. Nach 20 Jahren pflichtbewusster Arbeit, und zwar jeden verdammten Tag, direkt auszuarten, weil der zuverlässige Henry mal etwas Unerwartetes tut – nein, danke, kein Interesse. Henry war sich bereits im Klaren, dass sein Wunsch des verwegenen Privatdetektivs nur ein Kindeswunsch ist, Pinkerton lag damit vollkommen richtig und diese Erkenntnis traf Henry wie ein Baseballschläger die Kniescheibe – zumindest hat er sowas damals in seinen Noire-Filmen gesehen. Mafia und so ein Kram. Zertrümmern das Knie in tausend kleine Stücke, absolut inoperabel, humpeln für den Rest des Lebens – oder gar nicht mehr laufen, im Falle beider Kniescheiben. Üble Sache. Genauso war Henry allerdings klar, dass er kein Steuerberater mehr sein wollte. Das Büro wird ihn morgen nicht zu Gesicht bekommen. Endlich lohnte es sich mal, dass er das gesamte Geld zurückgelegt hat. Er hatte Zeit, sich etwas Neues zu suchen. Etwas, wonach ihm der Sinn stand. In 20 Jahren geringer Ausgaben kommt viel zusammen. Mindestens zwei Jahre hatte Henry, bis seine Ersparnisse ausgeschöpft wären. Irgendetwas gäbe es schon in dieser Welt, das seinem Leben die gewünschte Wendung geben würde. Vielleicht kein Gumshoe-Detective, aber irgendetwas. Darauf würde er trinken; auf ein neues Leben.
* * *
„Was darfs denn sein, Süßer?“ Henry setzte sich in das vollste Lokal, welches er im Viertel finden konnte. Menschenmassen der ganzen Stadt kamen hier her und wenn er sich nach Gesellschaft sehnte, war dies der Ort, an dem er wohl am ehesten welche finden würde. „Einen Cuba Libre, bitte“, erwiderte er. Libre – frei. „Schön wärs“, verhöhnte er sich selbst – aber dann kam ihm eine Epiphanie. In diesem Moment, ja, doch: Irgendwie war er frei. Weg von den Fesseln seines Jobs und mit freier Wahl, wohin die Zukunft ihn bringen würde. Die Barkeeperin brachte ihm seinen Cocktail, welchen er mit einem seichten Lächeln annahm. Er gab ihr ein gutes Trinkgeld und wandte sich der Menschenmenge hinter sich zu. Sie tranken, tanzten, küssten, spielten Billard und Dart. Henry wurde klar, auch sie waren frei. Frei von allem, jeder einzelne. „Die rechte hat ja recht“, fing die kapitalistische Schulter an. „Du bist wirklich unfassbar naiv! Ach, wie niedlich.“
„Was meinst du?“, fragte Henry. „Hey, man! Guck mal, er redet wieder mit uns! Hör mal, Henry: Ich dachte du bist hier, um andere Leute kennenzulernen. Sicher, dass du nicht mit denen reden willst, statt mit deiner Schulter, du schizophrener Mistkerl?“ Er grübelte eine Sekunde. „Eigentlich hast du Recht, ja. Ich will mit den anderen Leuten hier reden, danke. Also wäre ich euch sehr verbunden, wenn ihr jetzt einfach mal nichts sagt. Ihr beide.“
„Oh, aber ich denke, du willst dir unbedingt anhören, was er zu sagen hat, Henry“, mischte sich nun die rechte ein. „Ist dem so?“, erwiderte Henry. „Dem ist so“, sagte die linke. „Dann leg los, ich höre.“
„Du siehst die Menschenmassen hier? Sagst, sie sind frei, ja? Nein, oh nein, keineswegs, die sind so gefangen wie du zurzeit auch und fallen auf exakt dieselbe Scharade herein wie du. Glaub mir, ich sehe, welche Stimmen auf ihren Schultern sitzen, du hast ja keine Ahnung.“
„Du irrst dich. Heute bin ich frei. Und morgen. Und Übermorgen. Undsoweiter.“
„Du bist arbeitslos, Henry. Das befreit dich nicht, es macht Dinge nur schwieriger. Du unterliegst weiterhin gesellschaftlichen Maßstäben, hier ist niemand frei. Musst du deswegen keine Miete zahlen oder einkaufen? Siehst du keine Werbung mehr und lebst in dieser Stadt? Brauchst du keinen Job, um dem nachzukommen, brauchst du kein Geld? Natürlich kannst du dich einem Job verweigern, aber ein glückliches Leben wird das nicht – und ja, auch kein freies, wenn du am Straßenrand sitzt und bettelst, um wieder die Ressourcen beisammen zu kriegen, welche die Gesellschaft abverlangt, damit du dir vielleicht ein Brötchen oder so eine Scheiße kaufen kannst. Du bist nicht frei, Henry. Nicht in der Welt, in der wir leben. Du bist ein bisschen freier, natürlich, aber in erster Linie schlichtweg angepasst.“
Henry ließ das eben Gesagte kurz einwirken, um letztendlich zu antworten: „Wenn ich das richtig verstehe, bin ich nicht frei, da ich keine vollkommene Gewalt über mein Leben habe, richtig?“
„Richtig.“
„Du sagtest, der Ort hier sei eine Scharade; sprich sie suggeriert nur Freiheit. Du meinst, dass Leute hier ihrem Alltag entfliehen, um sich zumindest frei zu fühlen, nicht wahr? Dass das die Scharade dabei ist.“
„Mensch, Henry! So scharfsinnig kenne ich dich ja gar nicht, ein richtiger Detektiv, wie ich sehe!“ Henry ignorierte den Spott und zuckte stattdessen mit den Schultern. „Dann ist das nun mal so“, antwortete er letztendlich. „Weißt du, ich lebte einen Tag wie den nächsten – und der heutige war objektiv betrachtet ziemlich beschissen. Aber er war anders. Meinen Job nicht machen, das Gespräch mit Pinkerton und jetzt das hier. Ich weiß, es ist nicht viel, aber für ein Nutztier wie mich, ist das mehr als nur spannend, denn es ist anders. Einfach anders. Vielleicht hast du recht, ich bin ein bisschen freier, wenn auch nicht frei. Im Vergleich zu gestern, ist das ein riesiger Fortschritt. Und selbst, wenn es nur ein Gefühl ist, dieses werde ich genießen, für heute und immer. Irgendwann, das sage ich dir, werde ich so frei sein, wie nur irgend möglich. Ja, vielleicht sogar wie ein Vogel – und dann werdet ihr still sein. Es gäbe nur noch mich.“
„Weißt du“, die Schultern schienen Henrys gesamten Monolog nur als schlechten Scherz wahrzunehmen, „vielleicht willst du kein Privatdetektiv mehr werden, aber du bist und bleibst ein verschissener Träumer. Ein kleines Kind, das weiterhin denkt, es würde mal ins Weltall fliegen.“
Henry trank seinen Cuba Libre aus und blickte wieder in die Menge. Er sah eine Frau auf der Tanzfläche. Schwarzes Haar, blaue Augen, roter Lippenstift, umhüllt in einem roten Kleid. „Macht ihr euch nur lustig, mir egal. Seht ihr die Frau da hinten? Mal sehen, wie frei ich denn wirklich bin – schlechter als bei Pinkerton kann es ja nicht laufen.“
„Du brauchst uns aber, Henry. Du wirst uns nicht los.“
„Ich verzichte, danke.“
In mutigen Schritten ging Henry auf die tanzende Frau zu. Sie war groß, größer als die meisten Frauen in der Masse, sodass er sie weiterhin im Blick behalten konnte. Er wusste nicht so genau, was er sagen wollte, aber das war auch egal. Irgendwas würde ihm schon einfallen, das wäre wohl das kleinste Problem. Zur Not würde er einfach mit ihr tanzen. Gleich war er da, ein paar Schritte noch – bis er sie aus den Augen verlor. Ihr Kopf war nicht mehr oberhalb der Menge – und auf einmal wurden die Massen panisch. Drängelten sich entgegen seiner Richtung, begannen zu murmeln und teils sogar zu schreien. Irgendetwas ist passiert und Henry bahnte sich nun noch rasanter seinen Weg in Richtung der Frau. „Schlimmer als bei Pinkerton kanns nicht werden, hm?“, spottete die linke Schulter. Er drängelte weiter und weiter und weiter – bis er die Frau am Boden sah. Alle Leute um sie herum sind von ihrer Seite gewichen, sodass sich eine kreisförmige, freie Fläche um sie bildete, durchflossen von Blut. Ein Messer wurde in die Seite ihres Halses gestochen und Henry konnte nicht sagen, ob sie der Wunde wegen verblutete oder erstickte. „Bist anscheinend nicht der Einzige, der im Viertel einen Abstecher machen wollte, Henry“, sagte die linke. Die Frau versuchte das Messer offenbar zuvor zu entfernen, oder sie griff einfach danach, wohl eine Art von Reflex, denn was hätte sie tun sollen? Ihre Hand befand sich zumindest am Schaft der Mordwaffe. „Verdammte Scheiße“, dachte Henry, „wie konnte ich das denn übersehen? Ich hatte sie die ganze Zeit im Blickfeld; man übersieht doch nicht, wie jemand ein Messer in den Hals verabreicht bekommt“. Er blickte sich um. Der Täter war wohl schon längst fort und es hätte jeder sein können. Falls jemand etwas gesehen hatte, veräußerte die Person das zumindest nicht. Henry blickte erneut zur Frau und stellte fest, dass etwas unterhalb ihres Torsos lag. Ein kleines Stück Papier, nein, viel wichtiger – eine Karteikarte. „Halleluja!“, dachte Henry. Eine gottverdammte Karteikarte mit einer Adresse. Binnen weniger Sekunden wäre die Polizei fähig, den Täter ausfindig zu machen und anschließend zu verhaften. Der Fall wäre ein leichtes und wenn das nicht reicht, dann die Zeugenaussagen und hinterlegten Beweisspuren, auf die Henry zwar keinen Zugriff hatte, doch existent waren sie sicherlich. Aber das war zu perfekt, zu konstruiert – wie in einem seiner Filme selbst. Und wenn etwas derartig konstruiert ist, dann muss es ein Zeichen sein. Ein Zeichen, dass Henry DeVille wohl doch Realität werden könnte.
* * *
Jede erdenkliche, auf diesem Planeten wandelnde Person, hätte Henry zur Ausführung seines Plans – „Plan“ ist wohl eine leichte Übertreibung – und der Wiederbelebung von Henry DeVille konsultieren können und die Antwort wäre jedes Mal dieselbe gewesen: Lass es. Er wusste nicht, worein er sich hier kopfüber stürzte und hielt so stur an einer Idee fest, dass er nichtsdestoweniger den Entschluss fasste, dieser nachzugehen, ungeachtet, wie dumm die Ausführung denn sein konnte. Henry sammelte eine leere Bierflasche auf und schlug deren Unterseite ab, um im Notfall eine Waffe parat zu haben. Zwar wollte er sich zunächst umhören, ob er in einer der düsteren Ecken des Viertels womöglich einen Schlagring auftreiben könnte, doch wüsste er diesen gar nicht anzulegen. „Der dunkle Ritter bewaffnet mit seiner zerschmetterten Bierflasche. Was ein Bild, Henry, wir sind beeindruckt.“
„Schnauze, ich muss mich konzentrieren.“
Henry holte die Karteikarte hervor, um sich nochmal die Adresse anzusehen. Fazit: Kennt er nicht. Intuitiv griff Henry nach seinem Handy, um mit Hilfe von Google Maps die Straße ausfindig zu machen – wie ein richtiger Detektiv eben -, um festzustellen, dass dieses nicht in seiner Hosentasche befindlich war. „Scheiße“, sagte er sich. „Muss es im Club verloren haben. Keine Zeit, um es zurückzuholen, ist bestimmt ohnehin plattgetrampelt oder sowas“. Er fragte einige der Passanten, ob er kurz auf deren Handy die Adresse nachschlagen könnte, wenn natürlich auch unter anderem Vorwand, als dass er einen Mörder suche. Es hat einige Anläufe gedauert, bis jemand ihm ein Handy auslieh, da Henry zunächst vergessen hatte, die Bierflasche beiseite zu legen, weshalb die meisten wohl dachten, er würde sie ausrauben wollen, was auch die Frau erklärte, welche ihm eine kräftige Backpfeife gab, doch nachdem er diesen dümmlichen Fehler korrigierte, erklärte sich letzten Endes jemand bereit, schnell sein Handy zu verleihen. Gar nicht weit entfernt, nur ein paar Minuten, ein altes Lagerhaus am Hafen der Stadt. Die Klischees nehmen Überhand. Henry rannte los, als hätte er in seiner Eile noch irgendetwas ändern können. Als würde das die Frau wiederbeleben, als würde das seine Erfolgschancen steigern, als würde er frei sein, als wäre er tatsächlich Henry DeVille – und für einen Moment, war er glücklich.
Binnen weniger Minuten war Henry, wenn auch etwas außer Atem, am Lagerhaus angekommen. Das war es, das war sein Moment, er wusste es. Einige Männer standen am Dock. Sie rauchten, unterhielten sich, fingierten ihre Klappmesser. In schwarzen Anzügen, mit zurückgegeltem, dunklen Haar, allesamt glattrasiert – im unitären Einheitslook. Mit der zerbrochenen Bierflasche an seiner Seite bewegte Henry sich durch die Schatten der Container und suchte nach einem sicheren Eingang in die Lagerhalle, während er penibel darauf aufmerksam war, nicht entdeckt zu werden. An der Seite des Gebäudes stellte er eine Leiter fest, die zu einer kleinen Luke führte, groß genug, um dadurch hinein zu gelangen. Behutsam schlich er in Richtung der Leiter und schaffte es tatsächlich unentdeckt zu dieser. „Schritt Nummer eins“, dachte sich Henry und begann die Leiter hochzuklettern. Er blickte durch die Luke und sah einen Mann, groß und muskulös gebaut, welcher unterhalb von Henrys Eingang stand. An den Seiten der Halle waren abgezäunte Plattformen, quasi das zweite Geschoss der Halle, welche Arbeiter wohl nutzten, um die Fracht gesichert stapeln zu können, doch dieser Mann diente eindeutig dem Patrouillieren. Henry begab sich leise durch den Eingang und landete sanft auf der Metallplattform. So sanft, dass der Mann nichts merkte. „Weiter kann ich nicht, ohne, dass der Scheißkerl was merkt“, dachte sich Henry. „Ich habe nur eine Option“. Auf Zehenspitzen näherte er sich dem Hünen von hinten an, hob seine Flasche empor und schmettere sie ihm mit all seiner Kraft über den Hinterkopf. Der Mann kippte sofort um und die Flasche zerbrach in alle Einzelteile, sodass auch Henrys Hand kleine Schnittspuren erfuhr. „Was war das?“, hörte Henry jemanden von unten sagen. Scheiße, unklug. Ein Mann begab sich ins Zentrum des Raumes, der scheinbare Anführer der Gruppe, zückte eine Waffe und schoss genau in Henrys Richtung. „Wir haben dich gehört, Wichser. Komm raus“. Ein weiterer Schuss, diesmal knapp an Henry vorbei. Er fiel vor Schock zur Seite, sodass die Metallplattform zu scheppern begann. Der Mann im Zentrum wandte sich nun direkt in Henrys Richtung und tat selbstbewusste Schritte. „Komm schon, man. Spiel jetzt nicht den Helden. Falls du es nicht bemerkt hast: Ich bin ein Mann der Taten, nicht der Worte. Komm raus und vielleicht überlege ich es mir mit dir. Oder willst du für so eine Scheiße eine Kugel kassieren?“ Der Mann schien eine Reaktion von Henry abzuwarten. Noch ein Schuss, bewusst an Henry vorbei, nur des Schocks wegen. Mit einer Handbewegung ordnete er einen seiner Männer an den Ausgang der Halle. „Was habe ich mir denn hierbei gedacht?“, fragte Henry sich. Noch ein Schuss, diesmal knapper. „Eine Glasflasche über den Schädel ziehen, natürlich hört man das! Herrgott, sowas muss man doch kommen sehen“. Noch ein Schuss. „Und wie komme ich jetzt aus dieser Scheißlage raus? Sie werden wissen, dass ich die Luke genommen habe – oder planen könnte, darüber wieder abzuhauen. Jemand wird es im Auge behalten und bei einem Fluchtversuch schießen. An den Männern draußen komme ich wohl auch nicht mehr vorbei, sind sicherlich bereits alarmiert.“ Der letzte Schuss, ein Voll- und Glückstreffer direkt in Henrys rechte Schulter. Er unterdrückte ein Schreien, doch war der Schmerz enorm und sein Trenchcoat tränkte sich in Blut. „Gut, dass ich nichts fühlen kann“, sagte die Schulter. „Bist hier aber in einer ziemlich beschissenen Situationen, alter Knabe“. Der Mann in der Mitte hatte genug. Eine weitere Handbewegung des Mannes in der Mitte zu dem am Ausgang. Dieser betätigte daraufhin einen Hebel – und mit einem Mal fielen alle Plattformen nach unten, wodurch sie mit einem lauten Knall auf dem Boden landeten, knapp gefolgt von Henry selbst, der nun, nicht so sanft wie zuvor, sondern in überaus schmerzhaft Manier, auf der Metallplattform aufprallte. Er spürte ein heftiges Knacken im Rücken und alles um ihn herum begann zu verschwimmen. Das Adrenalin hielt ihn am Laufen und er sah, wie ein blaues Licht sich dem Eingang näherte – seine Rettung. „Also“, begann der Anführer, der sich nun überzeugten Schrittes immer weiter Henry näherte. „Wen haben wir denn hier?“ Er packte Henry am Kragen und drückte ihn gegen die Wand, wo er und seine Schergen sich um ihn sammelten. Ein rasender Schmerz durchfuhr Henrys Körper. Er murmelte unverständlich etwas vor sich hin. „Ich hör dich nicht“, sagte der Anführer und knallte Henry gegen die Wand, diesmal mit dem Kopf voraus. Der Privatdetektiv fühlte sich benommen, schwummrig. „Nochmal, bitte.“
„Ich sagte“, begann Henry, „mein Name ist Henry DeVille. Privatdetektiv“. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. Aus einem peripheren Blickwinkel sah er, wie eine Gruppe Polizisten auf die Männer um ihn herum zukamen. „Und du bist fällig, mein Bester“. Der Mann ließ Henry los, wodurch dieser direkt auf dem Boden zusammensackte. „Henry DeVille, Jungs“, begann er. „Passt lieber auf! Das hier, ich sage es euch, ist motherfucking Henry DeVille! Scheiße!“ Der Anführer machte eine schockierte Grimasse und ließ sich melodramatisch auf die Knie fallen, um zeigen zu wollen: Verdammt, das wars, wir sind erledigt! Die Männer brachen in tosendem Lachen aus, klopften sich auf die Oberschenkel und einige Tränen flossen; sie konnten sich nicht mehr halten. Für sie war Henry nur eine Witzfigur; dasselbe Kleinkind wie auch für Pinkerton. Leider lagen sie damit vollkommen richtig. „Eigentlich“, sagte eine Stimme aus dem Off, wozu Henry sich dachte: „Das wars, ihr Wichser“, „ist sein Name Henry Smith“. Er verstand nicht, was hier vor sich ging, aber es war ihm auch egal – Henry wollte nur, dass die Polizisten diese Gangster hinter Gitter brachten. Der Anführer der Gruppe weitete willkommen heißend seine Arme aus, näherte sich dem Polizisten und beide gaben sich einen Kuss auf die Wange. „Scheiße“, dachte sich Henry. „Kommissar Jackal! Ethan, mein Freund! Immer eine Freude Sie zu sehen.“
Ein kräftiges Schulterklopfen. „Gau! Die Freude ist ganz meinerseits. Wie läuft die Unterwelt, Toni?“
Den wenigen Worten und den Küssen folgend gaben beide sich die Hand und Toni setzte das Gespräch fort. „Höllisch, wenn du verstehst. Aber Ethan, ich muss doch fragen, und ich hoffe, Sie antworten, denn ich zahle schließlich gutes Geld: Woher wissen Sie den Namen von der Made da drüben?“ Gau zeigte auf Henry. Der Kommissar lächelte. „Das wird Ihnen gefallen, Toni. Alles eine Frage der Technik, wenn sie so wollen.“
Aus der hinteren Tasche seiner Hose zückte er ein kleines Gerät hervor. Ein Handy.
Scheiße.
Scheiße.
Scheiße.
„Lag neben dem Mädchen. Ist dem Pisser da wohl aus der Tasche gefallen, als er sie vorgefunden hat.“
Toni war für eine Sekunde sprachlos, er konnte sein Glück nicht fassen und als er es letztendlich realisierte, begann er in Freundensprüngen auszuarten, gefolgt von direktem Verspotten und Auslachen gegenüber Henry. Es war zu schön, um wahr zu sein. „Und Sie sind sich sicher, dass er es auch ist?“ Ethan Jackal öffnete den Selfie Ordner. Zwar waren nur wenige Bilder darin, doch genug, als dass klar war, es handle sich hierbei um Henrys Handy. Beide mussten beim Anblick lächeln. „Aber Herr Kommissar, ein Handy wenige Sekunden, nachdem eine Frau getötet wurde, direkt neben ihrer Leiche – ist das nicht ein höchst belastendes Beweismittel?“
Und mit einem überaus verschmitzten Lächeln, stand die Antwort des Kommissars fest.
* * *
Ich entsinne mich noch genau an den Tag, als Henry und ich Zellengenossen wurden. Ich fragte ihn, warum er sitzt und er sagte, es sei eine wirklich lange Geschichte, das würde ich mir nicht antun wollen. Für gewöhnlich belässt man es bei sowas, doch wirkte dieser Typ irgendwie anders. Er war glücklich hier zu sein, das sah ich. Henry erzählte mir seine Geschichte – doch war ich über seine Glückseligkeit nur noch verwirrter. „Du wirst so übers Ohr gehauen und sitzt hier mit diesem scheiß Grinsen“, sagte ich. „Hat dich der Kram verrückt gemacht oder was?“ Henry guckte mich leicht irritiert an, als läge die Antwort auf der Hand. „Nein“, sagte er. „Ich bin vollkommen bei Verstand. Ist denn nicht klar, warum ich glücklich bin hier zu sein?“
„Nicht wirklich, nein.“
Henry zuckte mit den Schultern. „Die Stimmen auf meinen Schultern. Seitdem ich hier bin, sind sie still, alle beide.“
Er legte sich aufs Bett und verschränkte seine Arme hinterm Kopf. „So ironisch das auch klingen mag: Ich bin frei.“
Henry DeVille, Henry Smith, eigentlich egal. Irgendwie war er beides. Alsbald er sich der Routine hier anpasste, lebte er jeden Tag wie jeden anderen Tag auch – und das war für ihn vollkommen in Ordnung. Der Fall wurde irgendwann wieder aufgenommen. Die Korruption Jackals entdeckt, die Männer verhaftet. Saßen auch hier im Knast, meine ich. Henry kam dementsprechend frei, weigerte sich aber zunächst vehement. Er wollte bleiben. Ich habe versucht ihn zu finden, als ich hier rauskam, doch ohne jeglichen Erfolg – bis jetzt. Ich habe Pinkerton auf ihn angesetzt – und natürlich fand er nichts zu Henry Smith. Wie auch? So ein scheiß generischer Name, könnte jeder sein. Dafür fand er etwas anderes. Doch nicht so inkompetent, wie ich zunächst dachte. Ein anderer Detektiv hätte womöglich eine Spur für mich. Pinkerton sagt, die beiden seien kaum vertraut, scheint aber ein vielversprechender Typ zu sein. Er reichte mir eine Karteikarte:
Henry DeVille
Private Investigator
Quinn-Str., 39th
Kommentar verfassen