Th!nk P!nk!

Werteste Höhöhörer, werteste Höhöhörerinnen!

Mein Name ist Atticus Thunder und ich heiße Sie willkommen zu „Th!nk P!nk!“, dem einzigen Radiosender in Farbe; das Gegenmittel zum grauen Alltag. Für jeden, der durch Röhren blickt, haben wir ein Kaleidoskop. Und wenn das schon gut klingt, dann hören Sie hier:
„Youphoria“, von „The Weird and The Wonderful“! Zurzeit ein kleiner Geheimfavorit meinerseits.

„Mikro ist stumm, wir sind raus.“ Atticus richtete Frisur und Krawatte, als ob es jemand sehen könnte, und nippte an seinem Wasser. Er sah aus, wie man sich jemanden vorstellt, der sich selbst Atticus Thunder nennt. Seine pinke Krawatte war auf die gleichfarbigen, perfekt frisierten Haare abgestimmt, von denen eine einzelne Strähne – nicht mehr, niemals! – über die Stirn baumelte. Sein Gesicht war, wie der Rest seines Körpers, betont durch den perfekt sitzenden, maßgeschneiderten, türkisfarbenen Anzug, lang und schmal, versehen mit intelligenter Miene. Trotz einer beachtlichen Größe von 1,93m, schaffte Atticus es dürrer zu sein, oder zumindest zu wirken, als die meisten Menschen, welchen man in der Regel begegnete. Seine graugrünen Augen, verbunden mit dem für ihn charakteristischen Zinken, schienen eine immanente Weisheit auszustrahlen; ein Verständnis der Welt und allem darüber hinaus, an dem es den meisten mangelte. Von ihm ging so viel Autorität wie Exzentrizität aus und das Ergebnis war Charakter im Übermaß.
Einfach gesagt: Atticus Thunder war ein Unikat.
„Lennard, wie sind die Quoten heute?“, fragte Atticus die Stimme aus dem Off, während er an seinem Frühstücksbagel nagte. Eine zugegeben seltsame Frage, denn wenn es eine Konstante im Leben gab, waren es die Quoten von Th!nk P!nk!.
„So wie immer halt“. Lennards Schulterzucken ließ sich bis in Atticus Kabine förmlich spüren. Atticus nickte unzufrieden. „Schlecht also“, erwiderte der Exzentriker. Seit sechs Jahren nun setzte der Radiomoderator sich jeden Morgen bis Abend hin, um seine kleine Show mit gut 50 Zuhörern zu bedienen, nur, damit er nachts das Programm für den nächsten Tag vorbereiten durfte – oder musste. Zwei Stunden blieben ihm am Tag, welche er bevorzugt in anderweitige Selbstdarstellung investierte – Instagram, Selbstportraits, Überlegungen zu seiner Biografie, usw. -, obwohl Th!nk P!nk! vor dieser bereits strotzte, zumal die Sendung sich meist mit Atticus und seiner eigenen Außergewöhnlichkeit, sowie der mondänen, grauen Langeweile des Normalseins und dem Inszenieren der eigenen Kunstfigur befasste. Für einige Monate vor einigen Jahren, schien die Sendung mal beinahe erfolgreich, mit 500 Zuhörern zu jeder Sendung, eines Tages allerdings mit stetig sinkender Tendenz. Die hohen Quoten waren ein damaliger Ausnahmefall, welchen das Radio-Duo sich bis dato nicht erklären konnte. Seitdem: nichts. Kein Plus, kein Minus. 50 Zuhörer. „Wobei, heute sinds 51!“, korrigierte sich Lennard. Atticus rollte entnervt mit den Augen – für seinen Partner zwar nicht sichtbar, doch sicherlich spürbar. „Nein, es sind 50. Das ist die Band, The Weird and The Wonderful, die hören heute mal zu. Wenn das Lied um ist, sind es wieder 50. Das ist deren erstes Mal im Radio und das wollten sie sich wohl nicht entgehen lassen“.
Dass Atticus den Sender, sowie Lennard und sich, über Wasser halten konnte, war ein Wunder für sich und den beiden so unerklärlich wie der einstige Höhepunkt von 500 Zuhörern. Am Monatsende erhielt Atticus ausnahmslos eine anonyme, absurd hohe Spende, welche alle Kosten deckte. Miete, Sendeplatz, Lennards Gehalt, Maßgeschneidertes. Beigelegt eine kleine Briefkarte, versehen mit einem pinken Kamerasymbol und einem dazugeschriebenen: „We do!“. Das Zurückverfolgen des Briefes, um die Spender aufzuspüren, erwies sich als eindeutige Sackgasse, da dies ohne Versandadressen nahezu unmöglich schien. Atticus spekulierte einst den Brief auf Fingerabdrücke zu untersuchen, doch Lennard überzeugte ihn, wie lächerlich das doch sei.
„Denkst du, wenn wir unsere Show qualitativ aufbessern, erhöht sich auch die Spende? Sowas wie eine Gehaltserhöhung“. Atticus grübelte nicht sonderlich, die Frage schien er sich selbst schon vielmals gestellt zu haben. „Ich denke, wir hängen am seidenen Faden, mein Freund. Die Qualität, so absurd dies auch sein mag, ist in meiner Show”, Atticus wusste sein Ego stets zu betonen, „nur noch nebensächlicher Natur. Das Bestehen dieses Senders liegt der Güte eines Einzelnen zugrunde. Nein, nicht einmal Güte. Dem Interesse. Dieses aufrecht zu erhalten, das ist die Hauptsache. Unser Nominator.“
„Scheinbar. Dann bleiben wir lieber interessant. Wir sind Live, in drei, zwei, eins…“

*          *          *

Atticus schlenderte nach Hause. Die Krawatte gelockert, das sonst so perfekte Haar zerzaust – sich fragend, wie lange das noch gut geht. Weder kannte er die oder denjenigen die oder der ihn finanzierte, noch hatte er Gewissheit, dass diese oder dieser plante die Zahlungen fortzusetzen. Atticus hatte keine finanzielle Sicherheit und das machte ihm Angst. Angst, dass er das alles aufgeben muss und seine jahrelange Arbeit sich als sinnlos erweist. Angst, seine Miete den Monat nicht zahlen zu können. Angst um Lennard. Angst, falls es mal nur 49 Hörer sein sollten. Am allermeisten jedoch: Angst, wie ein gewöhnlicher Mensch einen gewöhnlichen Job zu haben und das gewöhnliche, graue Leben durchstehen zu müssen, auf das er immer so herab blickte. Th!nk P!nk! war der Inbegriff seines künstlerischen Schaffens – und würde Th!nk P!nk! enden, würde Atticus Thunder enden und er müsste zu seinem richtigen Namen zurückkehren. Künstlerischer Selbstmord, wenn man so möchte.
Er zog eine Marlboro hervor.
„Noch ein Problem“, dachte er sich, „wenn das Geld fehlt, muss ich auf irgendwelche billigen Zigaretten umsteigen. Chesterfield oder sowas. Oder selbst drehen. Oder gar nicht rauchen“.
Nach eigener Aussage rauchte Atticus der Selbstdarstellung wegen. Alle großen Künstler würden rauchen, das fördere Kreativität und Ästhetik. Eine Lüge, versteht sich. Die Kreativität mag das Rauchen nicht fördern, die Angst jedoch phasenweise mindern – wenn nicht sogar unterdrücken.

*          *          *

Zuhause angekommen, sah Atticus sich mit dem ihm üblichen Problem zum Monatsende konfrontiert: das Öffnen des Briefkastens. Jeden Monat derselbe Scheiß.
Der Puls steigt, Herzrasen pur. Die Gedanken entgleiten ihm und formen sich zu einem fingergekreuzten „Bitte, bitte, bitte…
Ja, bitte. Bitte ist da dieser beschissene Umschlag drin! Und wenn nicht? Doch, natürlich ist er dort. Er muss dort sein. Er ist immer da. Rechtzeitig, Monat für Monat. Aber wenn nicht… – okay, hör mir zu, Atticus: Wenn nicht, dann nicht – und dann tust du Folgendes:
               Schritt 1: Du suchst dir einen Job. Einen guten! Irgendetwas, das dir Freiheit bietet, bevorzugt künstlerische. Jahrelang warst du dein eigener Sender, vielleicht bietet ein anderer dir einen Job. Vielleicht bieten sie dir wieder eine eigene Show, wenn sie dein Charisma erkennen. Sich wiederbeleben. Du könntest dich hocharbeiten. Irgendetwas in der Richtung halt. Keinen monotonen Beruf für all die Idioten und Normalen dort draußen, die den ganzen Tag nur“ – wie von fremder Hand drehte er das Schloss um, die Tür schepperte auf und ein kleiner Umschlag schwebte ihm entgegen. Ein Stein fiel Atticus vom Herzen, tausend böse Geister verließen ihn, sein Schutzengel zwinkerte ihm zu. Er machte Freudensprünge, drehte Pirouetten, küsste den Umschlag und ein Ständchen sang er gleich mit.  „Wann sonst schon kommt mein Bariton zur Schau“, dachte er sich. Wie schön das Leben sein kann, wie hoch die Euphorie, wie die Anerkennung der anderen ihn liebkoste. Ein sorgfältig im Umschlag drapierter Kuss. Halleluja!
Dem Hochgefühl kurzer Dauer folgte jedoch gleich der zweite Schock. Etwas war anders. Der Umschlag fühlte sich nicht an wie sonst – er war dünner. Nur ein wenig, hauchdünn. Etwa so dünn, wie beispielsweise ein Scheck, der die finanzielle Grundlage der eigenen Existenz sein könnte – und das Herzrasen kam zurück.
                „Schritt 2: Verkaufe dein Equipment. Alles. Die Mikros, all den Kram, den Lennard angeblich braucht, damit ihr auch ordentlich senden könnt – nein, jetzt wohl eher konntet! -, dann kannst du die Miete für einen weiteren Monat halten. Vielleicht auch zwei, wenn du an den richtigen Ecken sparst. Währenddessen hättest du genug Zeit, dich nach einer anderen Wohngelegenheit umzuschauen. Angelo, zum Beispiel. Der hat dir doch was geschrieben, von dieser Genossenschaft. Und Marius Frau – ist die nicht Maklerin? Außerdem, das Mikro selbst hat gut Tausend gekostet und bestimmt findet sich jemand der“ – eine hektische Bewegung mit dem Brieföffner und die Befürchtung bewahrheitete sich. Kein Scheck, nur Briefpapier. Das Herzrasen stoppte, der Stillstand folgte. Mit zittriger Hand, dem Schweißausbruch nahe, die Panikattacke bereits spürbar, öffnete Atticus den Brief.

Werter Herr Thunder,

denken Sie nicht auch, nach all den Jahren anonymen Miteinanders, müsse unser momentan doch so graues Verhältnis ein bisschen Farbe bekommen? Es wäre uns eine Ehre, Sie bei uns im Hotel Napoleon, Bern, begrüßen zu dürfen. Die monatliche Zahlung erfolgt in diesem Fall persönlich. Sofern Sie zustimmen, bauen Sie doch bitte eine kleine Variation in ihr Intro ein.

Keine Sorge, wir sind aufmerksame Zuhörer, dies wird nicht unbemerkt bleiben. Die Karte für den Flug lassen wir Ihnen in diesem Fall zukommen. Bei keiner Variation folgt keine, die Spende nichtsdestotrotz.

Wir sind große Bewunderer Ihrerseits und ein persönliches Kennenlernen wäre uns eine Ehre unfassbarer Bedeutung. Außerdem: wann hatten sie zuletzt Urlaub? Große Künstler reisen! Wir freuen uns auf die morgige Sendung.

Hochachtungsvoll,

Club Polaroid

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Werteste Hörer und Hörerinnen!

Ich heiße Atticus Thunder Sie willkommen zu „Th!nk P!nk!“, dem einzigen Radiosender in Farbe; das Gegenmittel zum grauen Alltag. Für jeden, der durch Röhren blickt, haben wir ein Kaleidoskop.

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“Du triffst dich also mit unseren Spendern?”
“Korrekt”. In Gedanken versunken, zupfte Lennard seinen Cheeseburger aus der Verpackung und pulte die an den Seiten klebenden Käsereste ab, um die kleinen Happen letztendlich in seinen Mund zu schieben. Atticus fragte seinen Partner, ob dieser sich auf eine Mahlzeit mit ihm treffen könne, es gebe etwas zu besprechen. Essen kaufte Atticus selbst nicht, doch kannte er Lennard gut genug, um zu wissen, dass dieser mit einer Mahlzeit in seiner Hand besorgniserregende Nachrichten besser verarbeitete
“Der Flug geht morgen früh”, sagte Atticus. Ein bedenkliches Nicken, mehr Käse. “Ich meine, vielleicht ist das ja keine schlechte Sache, sorgt womöglich für ne noch größere Spende, sobald sie dich kennen”. Oder gar keine mehr, dachte sich Lennard. Atticus war vieles, aber kein Sympathieträger. „Musst dich eben von deiner besten Seite zeigen.”
“Ich bitte dich”, begann Atticus, “schlechte Seiten habe ich gar nicht”. Lennard widmete sich endlich seinem Burger. “Hast du Angst? Ich meine, du kennst die Leute nicht – und wenn es gleich ein ganzer Club ist – na ja, da kann alles kommen. Wer weiß, was dich da erwartet”.
“Nein, keine Angst, ich freue mich schon”, antwortete Atticus – und zündete eine Marlboro an.

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So schön Bern auch war, wusste es sich mit der Fassade des Hotels Napoleon nicht zu messen. Kein Hochhaus, welches Blick auf die eher bescheidene Skyline Berns ermöglichte, sondern ein der Akropolis gleiches Gebäude, in klassizistisch angelehnter Architektur. Daher wohl der Name, dachte sich Atticus. Gelegen in einem kleinen Waldgebiet am Rande der Stadt, wirkte es von Bern beinahe abgetrennt. Es schien ein kleines eigenes Anwesen in seiner kleinen eigenen Welt. Dort stand das Hotel für sich, auf Baumhöhe mit dessen Umgebung, wenn auch abgeschattet durch diese. In seiner Inneneinrichtung entsprach Napoleon dem, was Atticus sich von einem aus den Fünfzigern, vielleicht Sechzigern stammenden Hotel erwartete und durchlief seitdem scheinbar keine weiteren Modernisierungen. Ein Schandfleck, der dem Äußeren nicht gerecht wurde. Erinnerte irgendwie an The Shining. Die wohl ursprünglich farbenfrohe Inneneinrichtung war schon längst nicht mehr das regenbogenartige Spektakel von früher, sondern nur noch bleich und blass, wobei das Rad der Zeit den eigentlichen Zustand allens verschonte – die Tapezierung blätterte nicht ab, das Polster der Sessel war so fest, man sollte meinen, es habe sich nie an nur einen Hintern gewöhnen müssen und der Tisch so frei von Kratzern und sonstigen Gebrauchsspuren, als hätte ihn kein Wasserglas der Welt berührt -, stahl es der Einrichtung jegliche Farbe und Sättigung, sodass trotz einwandfreien Zustands die gesamte Dekoration marode und verbraucht schien. Die einst goldenen Wände, welche den Sonnenschein selbst im Hotel versprachen, gleichten nun eher der eigentlich weißen Küche im Haus eines jeden Kettenrauchers. Die früher smaragdgrünen Sessel schienen mittlerweile wie schimmlige Brötchen und das weiche, pelzige Grundtextil dieser verstärkte einen derartigen Eindruck bloß, statt das ursprüngliche Gefühl von Luxus und Komfort zu erwecken. Der vor vielen, vielen Jahren bronzene Holztisch, der mal Höhepunkt eines jeden Festmahls zu sein schien, nahm den verkommenen Eindruck eines Hundehaufens an, welcher tagelang in der Sonne lag – und auch wenn Atticus die Fliegen nicht sah, konnte er sie regelrecht hören. Ein Buch nie nach seinem Einband beurteilen, dachte er sich. Der Inhalt kann immer noch hässlich sein. Irgendwie schien Atticus dieses Hotel nicht richtig. Ein Überbleibsel anderer Zeit, welches sich in den Bäumen versteckte. “Anachronie” fiel ihm dazu ein, doch schien der Begriff irgendwie unpassend. Die frühere Pracht des Hotels ging längst verloren, sodass sein momentanes Auftreten nur noch sich selbst persiflierte; es versuchte etwas zu sein, was es seit langer Zeit nicht mehr war und ein jeder konnte das sehen. All die Exzentrizität dieses ehemaligen Spektakels ging verloren und verkam zum Schlimmsten, zu dem all das Außergewöhnliche hätte verkommen können: einem trostlosen, uninspirierten Grau.

“Entschuldigen Sie? Sir?”, sagte der Rezeptionist, dessen Stimme Atticus letztendlich aus seinem Bewusstseinsstrom riss. “Kann ich Ihnen helfen? Seit zehn Minuten starren sie jetzt in die Leere. Entweder sie haben eine Buchung oder gehen wieder, so einfach ist das. Wir sind keine Ausstellung”. Was für ein Rüpel, dachte sich Atticus. Und sowas Unhöfliches arbeitet in der Kundenbetreuung?  
“Natürlich, entschuldigen Sie bitte, Verzeihung”. Atticus kramte in der Innentasche seines Mantel, suchte den vom Club Polaroid gekennzeichneten Brief heraus und überreichte diesen mit schrecklich aufgesetztem Lächeln an den Rezeptionisten, gefolgt von den Worten: “Wie Sie sehen können, erhielt ich eine, nun”, Atticus blätterte schnell sein mentales Lateinlexikon durch, um den Anschein von intellektueller Überlegen- und Kultiviertheit aufrecht zu halten, “eine invitatio. Geleiten Sie mich vielleicht?”  Der Rezeptionist haschte mit einem schnellen Blick über den Brief, grunzte in leisem Ton etwas vor sich hin, was Atticus vermeintlich als „Nicht noch so einer“ oder „Red normal mit mir, Arschgeige“ dechiffrierte und nahm anschließend das Telefon am Schalter in die Hand. “Fritz hier. Er is da. Ja genau, Futzi Thunder. Mir egal wie der heißt. Holen Sie mal Luft, so viel Aufregung bekommt Ihnen ja gar nicht. Ja, okay, sag ich ihm. Ganz, ganz toll, ich mach gleich Freudensprünge. Brauchen Sie noch was? Zum Glück. Tschüss”. Der Rezeptionist namens Fritz legte wieder auf und wandte sich erneut Atticus zu. “Ihr Gastgeber empfängt sie in ner Stunde. Holt sie vom Zimmer ab, damit Sie erstmal ankommen können, meint er”. Fritz ging zur Schlüsseltafel im Hintergrund des Rezeptionschalters und entnahm den für Atticus vorgesehenen. “Hier der Schlüssel. Nummer 11, wegen der beiden I’s in ihrer Show da. Sollte ich extra nochmal erwähnen, falls sie den Wink mit dem Zaunpfahl nicht sehen”.
“Eigentlich sind es Ausrufezeichen.”, korrigierte Atticus. Das ganze Gespräch über hielt Fritz einen monoton genervten Gesichtsausdruck aufrecht und schien keine Mühen zu beabsichtigen, diesen zu ändern, sondern wirkte der Verbesserung wegen noch überzeugter, diesen endgültig beizubehalten. “Ach du meine Güte, wie kreativ.”, antwortete der Rezeptionist. “Van Gogh ist ein Scheiß gegen Sie”. Atticus nahm den Zimmerschlüssel entgegen und bewegte sich Richtung Fahrstuhl. Arschloch, dachte er sich – und im Kopf des Rezeptionisten verhielt es sich ähnlich.

*          *          *

Beinahe war die ihm gegebene Stunde vorbei und Atticus verbrachte sie mit der Frage, worauf er sich hier eigentlich eingelassen hatte. Zeitweise schien es ihm, dass er in einem dieser absoluten Horrorszenarien ist, in welchem der obsessive Fan den Künstler zur Geisel nimmt, um zu seiner letzten verbleibenden Muse zu werden; damit all sein Schaffen nur noch ihm gilt. Wie im Stephen King Roman. Aber das verwarf Atticus schnell, denn nicht nur war es absurd unwahrscheinlich, sondern zu allem Überfluss enorm beunruhigend. Es klopfte an der Tür  – das Herz von Atticus gleich mit. In diesem Moment erst wurde ihm klar, dass er noch nie direkt mit einem Fan konfrontiert wurde. Ein, wie er sich immer vorstellte, schmeichelndes Ereignis; Balsam fürs Ego. Jetzt jedoch fragte er sich, ob er noch aus dem Fenster springen könnte. Die Höhe hätte er überstanden, sofern er sich auf den Rücken fallen ließe – aber was ist mit der Spende? Scheiße. Krawatte richten und durch, dachte er sich und griff schon zur nächsten Marlboro, bis ihm klar wurde, dass im gesamten Hotel Rauchverbot galt. Als ob das noch schaden würde, neu war hier nichts mehr. Ein Fuß vor den anderen, von der Minibar bis zur Tür. Was erwartet ihn dort eigentlich? Fritz zufolge würde sein Gastgeber ihn empfangen, das schließt aber nicht aus, dass der gesamte Club Polaroid ihn erwartet. Und aus wie vielen Leuten bestand der überhaupt? Drei? Fünf? Vielleicht sogar zehn? Wie unangenehm das doch wäre. Zehn Fremde, die einen mit strahlenden Augen mustern, sich nacheinander vorstellen, obwohl du bereits bei der dritten Person nicht mehr folgen kannst, dich um Autogramme und Selfies bitten, die so oft aufgenommen werden, bis es endlich stimmt und das perfekte neue Profilbild entstanden ist, die dich mit Fragen durchlöchern, welche du dir selbst noch nie gestellt hast, bis hin zu dem Moment, wo sich die von dir über Jahre konstruierte Kunstfigur, der du eine gesamte Programmatik und Philosophie zur authentischen Inszenierung widmetest, welche du tagtäglich der gesamten Welt bestehend aus 50 Leuten präsentiert hast, vor deinen größten und einzigen Fans als bedeutungslose Farce entpuppt, woraufhin diese realisieren, welche Zeit sie mit dir und deinen Lügen verschwendet haben und die Unmengen an Geld, das sie dafür zahlten, nur, damit du sie Tag für Tag für Tag weiter belügen konntest. Atticus Thunder, das Unikat, jemand, wie es ihn nur einmal gibt – oder doch nicht? Ein Konstrukt selbst geschaffener Besonderheit. Ein weiteres Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. “Herr Thunder? Störe ich? Soll ich später wiederkommen?” Atticus beschleunigte seinen Schritt zur Tür und öffnete diese direkt. Alle innere Unruhe legte sich und er gewann seine Fassung und die von ihm typisch autoritäre Ausstrahlung zurück. “Verzeihen Sie”, begann er. “Natürlich stören Sie nicht. Ich”, eine galante Verbeugung, “bin Atticus Thunder”. Der etwa 40 Zentimeter kleinere, dickliche Mann, dem Atticus gegenüber stand, kam aus seinem Staunen nicht mehr heraus. Das Zusammentreffen mit seinem Idol schien nahezu paralysierend zu wirken und versetzte den Gastgeber in bloße Sprachlosigkeit. Atticus erhob sich aus seiner Verbeugung und musterte seinen Fan. Die grün gefärbten Haare waren zu einem Mittelscheitel frisiert und passten sich dem ebenso grünen, in derselben Nuance gehaltenen, mit Kleeblättern und Karos versehenen, maßgeschneiderten Dreiteiler Anzug an, welcher in einem schrecklichen Kontrast zur lilanen Krawatte stand, die sich oberhalb der Wampe ihres Trägers erstreckte und in Verbindung mit dem blonden Schnauzer und blauen Augen die Lächerlichkeit von diesem komplettierte. “Meine Güte”, sprach er endlich, “in persona sind sie wirklich noch beeindruckender. Und diese Verneigung! Wow, einfach nur w-o-w. Wow!” Der kleine Mann applaudierte herzhaft, woraufhin Atticus sich die vorm Öffnen der Tür gerichtete Krawatte der Show wegen erneut richtete und so tat, als würden ihm tagtäglich Leute spontan applaudieren, statt dass es sich um eine Überreaktion per definitionem handelte. “Verzeihen Sie, Herr Thunder. Wo bleiben denn meine Manieren?” Er wischte sich die vollkommen verschwitzte Hand am Sakko ab und reichte diese anschließend Atticus. “Mein Name lautet Bartholomew Greenwich”, die Betonung lag hierbei auf dem “Green” und widersprach somit der eigentlichen Aussprache des Londoner Stadtteils, “meines Zeichens stolzer Begründer des Club Polaroids. Erlauben Sie mir, Herr Thunder, es ist mir eine Ehre, Sie nach all den Jahren endlich persönlich kennenzulernen”.
“Die Freude ist ganz meinerseits”, erwiderte Atticus und schüttelte Bartholomew die Hand. “Es ist immer eine Freude, die eigenen Bewunderer kennenzulernen”.
“Bewunderer? Pah!”, platzte es aus dem Clubleiter. “Ich bin viel mehr als nur ein Bewunderer, Herr Thunder! Ich verehre Sie! Sie sind ein Genie. Ein Genie, sage ich Ihnen!” Atticus wusste all die Anerkennung kaum zu verarbeiten, doch war er bemüht, seine Fassung nicht zu verlieren. Er lag gar nicht so falsch mit seiner Vorstellung vom ersten Fan – Balsam fürs Ego. Etwas, woran er sich durchaus gewöhnen könnte. “Entschuldigen Sie mich, da ging die Euphorie mit mir durch”. Mit einer bescheidenen Geste signalisierte Atticus, dass alles gut sei, die Euphorie ist vergeben. “Und sie müssen mich ein weiteres Mal entschuldigen, denn zu meinem unendlichen Bedauern, muss ich Sie direkt wieder überfallen. Nicht nur ich, sondern auch die anderen Clubmitglieder, konnten, beziehungsweise können, das Kennenlernen mit Ihnen kaum abwarten, weshalb ich Sie doch bitten würde, mich zu begleiten”. Mit einer eleganten, aber prätentiösen Bewegung, richtete Atticus sich die Haare. “Dann wollen wir Sie nicht warten lassen!” erwiderte er anschließend. “Aber bevor wir gehen, Herr Greenwich, würde ich mir gerne eine Frage erlauben”. Mit glänzenden Augen starrte Bartholomew ihn an. Sein Blick sagte so viel wie: Sie dürfen mich alles fragen, Herr Thunder. “Wie Sie, bin ja auch ich nur ein einfacher Sterblicher und stoße somit ab und an auf meine Grenzen”. Bartholomew würde an dieser Stelle bereits zu widersprechen wagen, “Zur angemessenen Vorbereitung frage ich mich, aus wie vielen Mitgliedern ihr Club denn eigentlich besteht – damit ich weiß, womit ich es denn zu tun habe”. Der kleine Mann grübelte kurz. “Nun, wir haben relativ klein angefangen, aber sind mit der Zeit immer weiter gewachsen. Tendenz steigend, sozusagen. Ich habe schließlich die ganzen Einladungen versendet und auch wenn es teils gedauert hat, immerhin mussten wir uns alle erstmal im Hotel quartieren, hat beinahe jeder zugesagt”. Die Irritation und der Schock übermannten Atticus und er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Greenwich ihm vermitteln wollte. “Zurzeit umfasst der Club Polaroid 450 Mitglieder”.

*          *          *

Als Atticus den einst pompösen Hauptsaal des Hotel Napoleons betrat, sah er sich erstmalig in seinem bisherigen Leben mit Geistern der Vergangenheit konfrontiert. All die fehlenden Zuhörer, um die das Th!nk P!nk! Duo über Jahre hinweg rätselte, waren nie verschwunden, sondern versammelt in Bern, abgeschottet vom Rest der Stadt und  Welt. Die Saalgröße war enorm und ließ grundsätzlich die doppelte Menge an Personen zu, kompensierte diese jedoch durch Stuhlreihen und Stehtische, auf welche Aschenbecher aus Porzellan platziert wurden. Das Rauchverbot war wohl also doch gar nicht mal so wichtig. Über die Seiten des Raumes erstreckten sich blassblaubleiche Tapeten, ohne zu blättern, und wurden vom Buffet, dessen Tische mit zigarettenrauchgelben Decken versehen waren, förmlich eingerahmt. Der Fokus des Raumes, auf den sich alle Stuhlreihen richteten, war eine große Bühne, in deren Zentrum eine dunkelgrau isolierte Kabine stand, die nur durch die vorn befestigte Glasscheibe Einblick in ihr Innenleben bot: ein massiver Metalltisch, auf dem sich zwei paar Kopfhörer sowie Mikrofone in selber Anzahl befanden. Anbei der Kabine standen ein paar gigantische Lautsprecher. Die eigentlich so plagende Farblosigkeit des Raumes stand im auffälligen Kontrast zu ihren Gästen. 450 Leute in den exzentrischsten Farben, mit blauen, grünen, gelben, roten, lilanen Haaren und dazugehörigen Anzügen, versehen mit den exzentrischsten Mustern, zu großen Fliegen und sorgfältig bestickten Krawatten; mit komischen Bärten, dubiosem Make-Up, eigenartigen Brillen, zu kleinen Hüten, zu hohen Schuhen – und alle rauchten Marlboro. Im Raum verteilt nahm Atticus unmittelbar Gesprächsfetzen war:

“Ich sage es immer wieder, der Alltag der meisten ist zu grau, einfach zu grau! Verzichten kann man auf sowas.”
“All den Leuten fehlt es einfach an Farbe. Weißt du was ihnen gut täte? Ein blaues Auge – oder ein bisschen rot, wenn du verstehst.”
“Stell dir vor gewöhnlich zu sein! Das trostlose, graue Leben. Warum es nicht einfach beenden? Also wirklich.”
“Alle schauen sie nur durch Röhren. Einfältig, einfach nur einfältig! Sollen sie sich damit doch die Schädeldecken einschlagen.”

“Ich bin Zebediah Flusterwill,
…Loreley Waspstorm,
…Mortimer Misfit,
…Amadeus Brickethstone,
…Montgomery Killjoy,
…Cosimo Islington,
…Archibald Nonconnorm”


und er begann zu verstehen, dass es sich hier nicht um seine verlorene Zuhörerschaft handelte, zumindest nicht mehr, auch nicht um besessene Fans oder, wie er zunächst hoffte, schlechte Plagiate. Der Club Polaroid war in seinen Grundzügen ein unverbesserlich desillusionierter Kult, welcher die Norm verdammte, um auf sie und all die gewöhnlichen, langweiligen Menschen, welche durch ihren Alltag streiften, in der Fabrik arbeiteten, früh aufstanden, zum Feierabend ein Bier tranken, den Bus nahmen, Geburtstage feierten, Fernseh schauten, einander auf Augenhöhe liebten und hassten, einfach nur lebten, zu spucken – und Atticus Thunder, Th!nk P!nk!, war ihr designierter Leitfaden.
“Herr Thunder, eine letzte Bitte?”, fragte Greenwich, der Atticus erneut aus den Gedanken riss. Atticus vollzog eine heftige Drehung, um sich Bartholomew zuzuwenden, er begann aus seiner Rolle zu fallen. “Ja, natürlich, nur zu”.
“Wir wissen natürlich, dass Sie kaum mit einem jeden von uns reden können, das wollen wir Ihnen selbstverständlich auch gar nicht zumuten. Dementsprechend haben wir im Plenum einige Fragen vorbereitet und wir würden sie bitten, diese in der Moderatorenkabine, die Ihnen sicherlich schon aufgefallen ist, mit mir zu besprechen. Eine kleine, private, inoffizielle Ausgabe von Th!nk P!nk!, wenn Sie so wollen”. Ein dickes Grinsen breitete sich über Bartholomews Gesicht aus. “Wissen Sie, Herr Greenwich, ich bin mir unsicher, ob es sich hierbei um eine so gute Idee handelt. Ehrlich gesagt-”
“Also Herr Thunder, ich muss Sie doch bitten!” Das Grinsen wurde von einer ernsten Miene verdrängt. “Ich frage Sie ausschließlich nach einem kleinen bisschen Fanservice, Herr Thunder! All diese guten Leute, meine Wenigkeit inklusive, geben jeden Monat einen Teil unserer Ersparnisse ab, nur, damit wir weiter in den Genuss Ihrer Show kommen dürfen. Seit Jahren, wohlgemerkt! Ich denke, es steht uns zu, diese Kleinigkeit von Ihnen abzuverlangen. Es ist eine einmalige Sache”. Widerwillig stimmte Atticus zu. “Na schön, wenn Sie es so sagen.”
“Wunderbar, ganz fantastisch!” Das Grinsen war zurück. “Gehen Sie doch schon mal zur Kabine, nur zu! Ich kündige Sie bereits an, alle warten schon ganz ungeduldig. Das ist das Highlight unserer Lebzeit!” Greenwich ging voraus, indem er – anders wusste Atticus diese Bewegung nicht zu beschreiben – in juvenilen Hopsern zur Bühne stürmte und in der Kabine Platz nahm, worauf Atticus sobald folgte.

“MEINE DAMEN UND HERREN; GENTLEMAN UND GENTLELINEN! DER MANN DES TAGES, ATTICUS THUNDER, IST HIER UND PRÄSENTIERT UNS IN BESCHEIDENER KOOPERATION MIT MIR, BARTHOLOMEW GREENWICH, EINE HAUSEIGENE AUSGABE VON TH!NK P!NK!, BITTE SETZEN SIE SICH!”

Die exzentrischen, regenbogenfarbenen Scharen stürzten sich in die Stuhlreihen und nahmen gespannt Platz. Alle Augen richteten sich auf die Moderatorenkabine und beobachteten Atticus, wie er  sich zu Bartholomew Greenwich gesellte und das Paar Kopfhörer aufsetzte. Für einen Moment noch stellte Greenwich das Mikrofon stumm und flüsterte zu Atticus: “Übrigens, brauchen Sie keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Zwar bin ich nicht so eine Koryphäe wie Sie, Herr Thunder, doch führe ich tatsächlich meinen eigenen kleinen Sender und weiß, was ich zu tun habe”. Atticus nickte verstehend. “Leiten sie unser Gespräch doch mit Ihrem Intro ein, ja? Die Leute werden es lieben!” Ein weiteres Nicken. “Fantastisch. Es geht los in drei, zwei, eins…” Atticus fing an.
“Werteste Höhöhörer, werteste Höhöhörerinnen.
Mein Name ist Atticus Thunder und ich heiße Sie willkommen zu Think Pink, dem einzigen Radiosender in Farbe. Das Gegenmittel zum grauen Alltag. Für jeden, der durch Röhren blickt, haben wir ein Kaleidoskop”. Statt dem gewohnt energetischen Einsprechen, wie Atticus es sonst handhabte, erfolgte das Intro in sehr monotoner Ausgabe, doch zeigte sich das Publikum nichtsdestotrotz begeistert. Sie klatschten, jubelten und skandierten im Chor: “THUNDER! THUNDER! THUNDER!”
“Und auch ich begrüße Sie herzlichst, meine Damen und Herren.”, begann Atticus Gegenüber, alsbald das Publikum sich beruhigte. “Ich bin, wie Sie alle sicherlich wissen, Bartholomew Greenwich und mir wurde die Ehre zuteil, hier mit dem Star des heutigen Tages zu sitzen. Atticus Thunder, es ist mir eine Freude”.
“Die Freude ist ganz meinerseits, Bartholomew”. 
“Wie Sie sich denken können – wie Sie sogar sehen können! -, sind Sie für uns alle eine große Inspiration, Atticus”.
“Nun, Ihre Handhabung ist auch nicht sonderlich subtil, wenn ich mir das erlauben darf, Bartholomew”. Tosendes Gelächter schallte durch den Saal. “Wohl wahr, wohl wahr. Nun fragen wir uns jedoch: Was ist die Ihre? Wer hat sie zur Figur des Atticus Thunder inspiriert? Nein! Gemacht”. Plötzliche Stille. Das wollte jeder wissen. “Ich denke, dass Atticus Thunder schon immer ein Teil von mir war, verstehen Sie? Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser sich entfesselte”. Ein beeindrucktes Raunen. “Also, ein Künstler durch und durch, was anderes hätte ich nicht erwartet. Aber, Atticus, und es ist keine Schande das zuzugeben, steckt denn nicht auch ein bisschen Ziggy Stardust in Ihnen?” Atticus zuckte die Schultern. “Tja, da haben Sie mich wohl erwischt. Ziggy Stardust scheint mich angehaucht zu haben, nicht?”
Es folgte Frage über Frage. Manche harmlos wie: “Planen Sie weitere Kunstprojekte neben Th!nk P!nk!?”, andere sehr intim und schmerzhaft, die bestätigten, wie aufmerksam der Club Polaroid sich den Übertragungen der Show widmete – “Ihr Vater prügelte sie ihrer Sexualität wegen. Findet diese Misshandlung und ihr Schwulsein Verarbeitung innerhalb ihrer Kunst?” Unprofessionelle Ausrutscher, die Atticus sich in der Show erlaubte – nun feuerten sie zurück. Das Gespräch war strapaziös und die auf ihn gerichteten 450 Augenpaare machten es nicht einfacher, doch schaffte er es seinen Schein zu bewahren und für einen kurzen Moment glaubte Atticus, gleich die Kabine verlassen zu können, um unberührt zurückzureisen, wissend, dass er diese Fanatiker nie wieder treffen müsste. Er würde seine Sachen packen, Fritz den Mittelfinger zeigen und aus eigener Tasche den nächsten Flug nach Hause nehmen – länger hielt er es hier nicht aus. Er würde irgendeine Notiz in seinem Zimmer hinterlassen, die seine abrupte Abreise erklären würde. Er würde weiter mit Lennard Th!nk P!nk! senden und bis ans Ende seiner Tage glücklich von den Spenden leben und endlich anfangen, ein bisschen mehr Geld zurückzulegen, um nicht mehr in Furcht vor der Kontrolle zu leben, die Club Polaroid, der wahnsinnige Kult, welcher Atticus so verehrte, über ihn hatte. Er würde all das hier in die düsterste Ecke seiner Gedanken verschieben und sich weiterhin einreden, dass er wirklich Atticus Thunder ist und nicht nur eine Rolle spielt. Dass er tatsächlich ein unikater Exzentriker ist, statt dem grauen, gewöhnlichen Oskar Mühlhoff, der er vor Th!nk P!nk! war – oder noch schlimmer, statt dem berufenen Anführer eines Kultes. Irgendwie würde das schon funktionieren, für einen Moment war er sich sicher – bis die letzte Frage folgte und Atticus wusste, nichts könne mehr wie vorher sein.
“Hiernach haben Sie es geschafft, Atticus. Die Abschlussfrage: Was tun wir dagegen?” Atticus zögerte einen Moment. “Verzeihen Sie Bartholomew”, Atticus schaute irritiert, “aber ich denke, ich verstehe die Frage nicht ganz”. Spannung breitete sich im Saal raus, das Knistern war nahezu greifbar. “Nun, wie Sie, haben wir die Seite der Exzentrizität gewählt, Atticus. Die Seite der Anderen und, wenn ich mir das erlauben darf, Besseren. Wir verweigern uns dem Gewöhnlichen, dem Grauen – der Norm. Es gibt die Masse und es gibt das Kollektiv. Das Kollektiv, welches dagegen steht. Welches die Farbe wählt und grau und schwarz und weiß mit Füßen tritt. Bisher nur, indem wir anders sind; sie übermalen mit unseren Farben – aber so geht das nicht. Nicht mehr. Wir befinden uns in einem Krieg, Herr Thunder, und sie haben offenkundig die unsere Seite gewählt – oder wir wohl eher die Ihre – denn haben Sie diesen Krieg nicht gestartet? Daher meine Frage: Was tun wir dagegen?” Das Kollektiv beugte sich vor. Sichergehend, sie würden jedes Wort ihres anerkannten Führers einverleiben, aufsaugen, als Testimonium der eigenen Ideologie mit sich tragen. Nicht Atticus Thunder, sondern Oskar Mühlhoff, der er doch eigentlich war, stockte der Atem. Keine Antwort. Bartholomew lehnte sich zurück. “Atticus. Wir leben auf dem blauen Planeten. Hier ist kein Platz fürs Grau! Vor allem, wenn dieses gar nicht richtig lebt. Wie auch? Es wüsste nicht wie! Warum es nicht beenden oder zumindest auf einer Insel verschanzen, wo es uns, die Lebenden, nicht mehr zu belästigen weiß?” Oskars ganzer Körper begann in heftigem Zittern auszuarten. Das war Wahnsinn. Bloßer Wahnsinn. So etwas konnte Bartholomew ihm doch unmöglich unterbreiten, gar ihm unterstellen, einen Krieg zu starten. Ist es denn verwerflich, sich zu wünschen, unter Milliarden von Menschen etwas Eigenes zu sein? Mehr wollte Oskar nie. Und kann dieses Kollektiv, diese 450 Leute, nicht greifen, wie sehr sie einander gleichen? Dass sie planten Exzentrizität zu normalisieren und somit ihrer eigenen Agenda widersprechen würden? “Ist die Frage weiterhin unklar, Herr Thunder? Was. Tun. Wir. Dagegen”. Manchmal ist es in Ordnung, einer Schlacht zu entfliehen. Oskar sprang aus seinem Stuhl, riss die Kabinentür auf und verließ das Hotel in so hastigem Sprint, dass niemand die Reaktionszeit hatte, um aufzuspringen und ihn zu stoppen. Th!nk P!nk! müsste enden – und somit auch Atticus Thunder. Der künstlerische Selbstmord, der künstlerische Selbstmord, in der Hoffnung, nie wieder einem Mitglied des Club Polaroids zu begegnen.

*          *          *

Seit Monaten hat Lennard nichts mehr von Atticus gehört. Sein neuer Job als Audioassistent bei einem richtigen, großen Sender war zwar gut, doch nicht vergleichbar mit den früheren Zeiten an der Seite von Atticus. Das Duo in Farbe. Jegliche Suche nach seinem Sendepartner erwies sich als sinnlos – tot oder untergetaucht, eins von beiden müsste es sein. Er begann seinen alten Freund beinahe aus dem Gedächtnis zu verbannen, bis er irgendwann einem Fremden begegnete. Ein großer, hagerer Mann saß am Straßenrand und bettelte nach Spenden. Die langen, dunkelbraunen Haare, welche gen Ende aufgehellt waren, hingen ihm fettig und zerzaust übers Gesicht, welches sich hinter einem vollen Rauschebart versteckte, mit Ausnahme des Zinkens und der graugrünen Augen, die inmitten dieser Berge von Haaren hervorstachen. Er trug ein zerfleddertes Hemd mit blauer Hose und die pinke Krawatte nutzte er, um die Unmengen an Haaren zusammenzubinden. Erst auf den zweiten Blick erkannte Lennard seinen alten Freund und ihm zuliebe floss eine Träne – niemals mehr!, dachte er sich – über die Wange. “Atticus?”, sprach er die Gestalt am Straßenrand an. Der Obdachlose brachte es nicht übers Herz Lennard in die Augen zu sehen und sagte lediglich:

Ich bin Oskar.

*          *          *

Die Post in Atticus altem Briefkasten stapelte sich – allesamt mit einem kleinen Kamerasymbol, als Unterzeichnung der kurzen Nachrichten versehen.

We m!ss your vo!ce!

We st!ll do!

Th!nk about !t!

We st!ll do!

We st!ll do.

We still do.

You don’t.

Those who chose grey will be part of the fray. Those who chose grey will be part of the fray. Those who chose grey-

*          *          *

Werteste Gentleman und Gentlelinen!
Willkommen heiße ich sie zu Seen Green, dem einzigen Radiosender in Farbe. Im grauen Felsen sind wir Saphire! Im monochromen Granit der Smaragd. Und Edelsteine muss man freimeißeln! Mein Name ist Bartholomew Greenwich und ich biete Ihnen eine Welt in Farbe.

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Eine Antwort zu „Th!nk P!nk!”.

  1. […] würde ich mir sagen, wäre auf der Nummer 2 nicht etwa mein längster und liebster Beitrag: Th!nk P!nk!. Abgeschlossen wird die Top 3 durch Zwiedentität – meine kleine Interpretation eines Krimis […]

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